Essen. . Turgay Tahtabaş kam 1989 aus der Türkei nach Essen, fand einen Job bei der Müllabfuhr und gründete ein Bildungswerk. Nicht nur für Zugewanderte.

Vermutlich passierte es beim Stockbrot-Backen: dass Turgay Tahtabaş zu dem Mann wurde, der er heute ist. Ein echter Essener, geboren und aufgewachsen im türkischen Zonguldak; ein Moslem im Sabbatical; ein Müllmann, der ein Bildungswerk gründete. Ein herausragender Talentförderer. Gestern Abend verlieh ihm der Initiativkreis Ruhr seinen Preis dafür, den „Talent Award“ des Jahres.

Ferienschule, Theaterprojekte,Vorlesestunde und Sprachangebot

„Babys“, sagt der 51-jährige Karnaper, „schreien, wenn sie Hunger haben. Und dann gibt man ihnen zu essen.“ Doch kein Kind schreie nach Bildung, wenn es ihm daran mangele. „Gerade deswegen muss man helfen.“ Turgay Tahtabaş tut es im schwierigen Essener Norden mit seinem 2015 gegründeten gemeinnützigen „Zukunft Bildungswerk“. 100 ehrenamtliche „Bildungsbegleiter“ holte er in sein Team, mehrsprachige, meist junge Menschen, viele von ihnen angehende Lehrer. Als Mentoren stellt er sie denen an die Seite, die es nötig haben, Zuwanderer- wie deutschen Familien. So früh wie möglich. Er organisiert Vorlesestunden, Theater- und Musikprojekte, Nähkurse, Eltern-Cafés, Nachhilfe und Ferienschulen, vor allem Sprachangebote. „Du kannst noch so klug sein“, erklärt Tahtabaş, „wenn du eine Aufgabe nicht verstehst, wirst du sie nicht lösen können.“

Turgay Tahtabaş
Turgay Tahtabaş © Fabian Strauch

23 war der Lehrersohn, als er selbst nach Deutschland kam – seiner Frau Türkan zuliebe, deren Familie seit 1974 in Essen lebt. 1989 war das, aber Tahtabaş erinnert sich noch gut daran, wie fremd ihm das Land erschien. „All die vielen Autos auf den Straßen und ich hatte nicht einmal den Führerschein.“ Der gelernte Hotelier fand Arbeit als Straßenkehrer, rückte bald auf „zum ersten türkischen Vorarbeiter bei der EBE“, der Essener Müllabfuhr. Er belegte Deutschkurse, büffelte Vokabeln, las sogar Goethes „Faust“.

Die Nachbarn redeten trotzdem nicht mit ihm. „Das änderte sich erst, als wir eine Parzelle im Schrebergarten pachteten“, behauptet Tahtabaş. Grinsend. Es war zwar die einzige von 64, auf der Auberginen angepflanzt wurden. Doch die Nachbarn: Nun grüßten sie!

Kita-Gebühren konnte die Familie nur vom Weihnachtsgeld zahlen

Familie Tahtabaş lernte aus dieser Erfahrung: Ihre Kinder schickte sie in den (katholischen) Kindergarten, danach in den Hort und bewusst auf eine Ganztagsschule; sie meldete sie beim Turnverein an und in der Musikschule. „Allein hätten wir es nicht geschafft. Dort bekamen sie Hilfe“, erklärt ihr Vater – noch heute dankbar. Für den deutschen Trainer, der die türkischen Kinder zum Grillen einlud. Für die Lehrerin, die erklärte, was „ortsnahe Schulpflicht“ bedeutet – und es ermöglichte, sie zu umgehen. Für die Kindergartenleiterin, die erreichte, dass die Familie die fälligen Gebühren erst im Dezember zahlen musste – wenn Weihnachtsgeld auf dem Konto war. Viel zum Leben nämlich blieb nicht. „Unser Sohn“, sagt Tahtabaş, „bedauert es noch immer, dass wir nie als komplette Familie Urlaub gemacht haben.“

Elif, die jüngste, ist heute 20. Sie studiert Latein und Geschichte auf Lehramt. Levent (25) macht gerade in Aachen seinen Master als Wirtschaftsingenieur. Sevilay (26) fand nach ihrem Dualen Studium eine feste Stelle bei RWE/Innogy. Zu ihrer Hochzeit im März ist Essens OB eingeladen.

Alle drei Kinder haben – wie inzwischen auch ihre Eltern – den türkischen und den deutschen Pass. Wann begriff der Vater, das sie hier keine „Fremden“ mehr waren? Als die ersten deutschen Klassenkameraden die Tochter um Nachhilfe baten? „Spätestens, als mein Sohn – Kind eines Müllmanns und einer Frau, die in seiner Schule putzte – mit dem des Arztes und dem des Möbelhaus-Inhabers Interrail machte“, sagt Tahtabaş.

Warum er das Erreichte nun nicht einfach nur genießt? „Wir stehen auf der Sonnenseite. Aber das ist nicht unser Erfolg allein, viele haben geholfen“, erklärt er, warum es nun an ihm sei zu helfen. 700 Kinder und ihre Familien betreut „Zukunft Bildungswerk“ inzwischen, acht Kindergärten und elf Schulen sind dabei – „und es kommen täglich mehr Anfragen“, freut sich der Gründer. Zuviel für einen Mann, der auch Mülltonnen zu leeren hat: Vor einem Jahr bat Tahtabaş („war sowieso nicht mein Traumjob“) die EBE um ein Sabbatical, um unbezahlte Beurlaubung. In diesem Oktober wird er um Verlängerung bitten.

Asma kam 2016 aus Afghanistan, jetzt macht sie Abitur in Essen

Damit er mehr Geschichten wie die der 18-jährigen Asma erzählen kann. 2016 kam das Mädchen aus Afghanistan als Flüchtling ins Karnaper Zeltcamp. Damals sprach es kein Wort Deutsch, heute besucht Asma die 10. Klasse einer „ganz normalen“ Gesamtschule – mit Fächern wie Chemie und Erdkunde, die sie nie zuvor hatte. Eine „Bildungsbegleiterin“ kam täglich für vier Stunden, lernte mit dem Kind, half bei den Hausaufgaben – und darüber hinaus, wo es Not tat. Tahtabaş brachte Eltern und Lehrer an einen Tisch, versicherte den einen, dass sie stolz auf ihr Kind sein könnten („Sie ist so fleißig!“), überzeugte die anderen, dass Asma das Abi packen werde („Wir helfen!“).

Erfolg gründe oft auf Kleinigkeiten, sei gar nicht so schwer, glaubt Turgay Tahtabaş. Ihm selbst sei das einst beim Zelten mit dem Turnverein der Kinder bewusst geworden. Als sie, die einzige türkische Familie, und die Deutschen beim Grillen des Stockbrots am offenen Feuer plötzlich ganz unaufgeregt warm wurden miteinander.