Essen-Südviertel. Am 30. September endet die Kneipengeschichte im Bahnhof Süd. Konzerte, Partys und lange Nächte prägten eine Generation mit. Ein Gast erinnert sich.
Es gibt Orte, die einem derart vertraut sind, dass sie ein fester Bestandteil der eigenen Biografie werden. Das gilt für Wohnungen und Häuser, für Plätze und Straßen, sogar für den Arbeitsplatz, den man eventuell über Jahrzehnte nahezu täglich aufsucht. In diesem Fall aber geht es um eine Kneipe und deren 30-jährige Geschichte. Ende des Monats wird das Kapitel Bahnhof Süd zugeschlagen, werden die Zapfhähne hochgedreht und später wohl für immer abmontiert. Für den Autor, Gast der ersten Stunde, ein Moment der Wehmut.
Die erste Erinnerung hat mit Visualität zu tun. Man steht damals, kaum dass man die ehemalige Schalterhalle der Bundesbahn betreten hat, vor einer runden Theke mitten im Raum; lästig für diejenigen, die sich im Service größtenteils den Lebensunterhalt fürs Studium verdienen, aber eine unbestrittene Attraktion für die Gäste. Der Bahnhof Süd hat in diesen ersten Jahren Zulauf, mitunter so viel, dass man Stammgast sein sollte, um nicht allzu lange auf sein Pils und sein Rahmschnitzel warten zu müssen.
Ein heißes Konzert mit Louisiana Red
Konzerte sind regelmäßige Höhepunkte in einer Zeit, in der die Gäste auch wochentags oft bis tief in die Nacht bleiben. Lokale Bands wie der „Aufstand alter Männer“, „Bambi‘s Revenge“ und andere nutzen den Bahnhof Süd als Bühne und werden ebenso gefeiert wie auswärtige Musikgruppen. Ein besonderes Ereignis ist der Besuch von Louisiana Red. Iverson Minter, wie er im wirklichen Leben heißt, hat den Blues, liebt den Blues. Als „Red“ singt und spielt, ist es so eng, dass mancher den rustikalen und fast wandhohen Schrank erklimmt, um sich etwas Luft zu verschaffen. Alles klatscht, trommelt und biegt sich im Rhythmus der Musik, der Schweiß fließt, der Atem geht schwer, Körper an Körper. Man muss diese inflationär benutzte Wortschöpfung nicht mögen, aber wegen dieser und ähnlicher Nächte ist später oft von der „Kultkneipe“ die Rede.
Dann entdecken auch die Essener das Trinken unter Bäumen, und der Bahnhof Süd ist dabei weit vorne. Noch steht kein einziger Stuhl auf der „Rü“, aber im Biergarten an der Rellinghauser Straße muss stehen, wer in einem ungünstigen Moment gekommen ist. Die Nachbarschaft ist nicht begeistert, deutlich vor Mitternacht soll Schluss sein mit dem Freiluft-Vergnügen.
In der kalten Jahreszeit aber büßt der Bahnhof allmählich an Anziehungskraft ein. Die Kneipe und seine Stammgäste sind in die Jahre gekommen, ein großer Teil des ehemals harten Kerns schaut nur noch gelegentlich vorbei, der Eigentümer Thomas Draheim muss sich etwas einfallen lassen. Das Frühstücksbüffet soll das Tagesgeschäft beleben, und nachts an den Wochenenden wird der Bahnhof zum Tanzschuppen für diejenigen, die sich nicht mehr mit den Frischlingen in der Disco messen wollen. Die runde Theke ist da schon lange nur noch Erinnerung.
Der Selbstläufer gerät ins Trudeln
Und es geht weiter abwärts. Es kommt zwar ein neuer Pächter, aber kein neuer Schwung. Der Bahnhof Süd, einst eine Art Selbstläufer, mutiert in den letzten Jahren zu einem ungeliebten Kind, in das man nicht mehr investieren mag. Die Gäste von früher treffen dort nicht mehr ihre ehemaligen Zechkumpanen, und die Jugend meidet, von Ausnahmen abgesehen, das Lokal. Häufig ist sogar schon weit vor Mitternacht Schluss.
Nur schwer zu verstehen für diejenigen, die einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Lebens im Bahnhof Süd verbracht haben, die zunächst ohne und später mit Kindern den Biergarten bevölkerten, die über Jahre einen freundschaftlichen Umgang mit den Bedienungen pflegten und die jetzt nur noch zurückschauen können auf einen Ort, der einst bedeutend war für sie und für den ganzen Stadtteil.
>>> Keine Gastronomie mehr geplant
Die Hoffnung vieler Gäste, dass ein neuer Pächter oder Käufer der Immobilie die gastronomische Geschichte des Bahnhofs Süd fortführt, wird nach aktuellem Stand wohl enttäuscht. „Es wird keine Gastronomie mehr geben“, erklärt Thomas Draheim, der das Lokal vor 30 Jahren eröffnete, später erwarb und verpachtete. Er möchte das Gebäude alsbald verkaufen. Ein Architekturbüro sei am Gesamtensemble interessiert, auch die Deutsche Bahn als Besitzerin der übrigen Gebäudeteile sei an den Gesprächen beteiligt.
Der derzeitige Pachtvertrag mit dem Betreiber der Kneipe läuft noch bis zum 30. September. Ein sich unmittelbar daran anschließender Verkauf sei nicht zu erwarten, erklärt Draheim. Dazu bedürfe es weiterer Abstimmungen mit der Deutschen Bahn. „Die Bahn hat Bereitschaft signalisiert, sich auf einen Verkauf einzulassen“, sagt Draheim, einen Ortstermin mit Vertretern des Konzerns und dem Amt für Denkmalschutz der Stadt Essen habe es bereits im Frühjahr gegeben. Eine Anfrage dieser Zeitung bei der Deutschen Bahn blieb gestern unbeantwortet.
Brückenbauwerk und Dach müssen saniert werden
Bei einer Nutzungsänderung des Gebäudes würde das Amt für Denkmalschutz auf den Plan treten. „Jetzt ist es eine Kneipe, und das ist für den Denkmalschutz in Ordnung. Wird es aber anders genutzt, müssen die Pläne vorgelegt und geprüft werden, ob sie mit dem Denkmalschutz vereinbar sind“, erklärt eine Stadtsprecherin.
Thomas Draheim ist davon überzeugt, dass aus dem Ensemble „ein Schmuckstück in Essen-Süd“ werden kann. „Es gibt dort einen Renovierungsstau“, erzählt er. „Das betrifft das Brückenbauwerk, das der Bahn gehört, aber zum Beispiel auch das Dach.“ Einen Zeitplan für den Verkauf und die nötigen Arbeiten gebe es allerdings nicht.