Essen. Sozialdezernent Peter Renzel ist empört über Pläne des Landes, die Wohnsitzauflage zu lockern. Essen müsse schon jetzt zu hohe Lasten schultern.

Herr Renzel, in der NRW-Landesregierung gibt es offenbar Überlegungen, die Wohnsitzauflage für Flüchtlinge wieder zu lockern.

Ich konnte es kaum glauben und kann nur hoffen, dass dies nur eine theoretische Überlegung bleibt.

Warum?

Weil sonst zuviele Flüchtlinge nach Essen kommen. Die Stadt Essen erfüllte bei der Einführung der Wohnsitzauflage im November 2016 die Quote mit 518 Prozent. Das heißt wir hatten damals fünfmal soviele aufgenommen wie die allermeisten NRW-Gemeinden im Durchschnitt. Nach ihrer Anerkennung sind insbesondere aus Syrien, dem Irak und Afghanistan tausende Flüchtlinge aus anderen Bundesländern und aus anderen NRW-Städten nach Essen gezogen. Aktuell beträgt unsere Quote immer noch 171 Prozent.

Deshalb bekommt Essen seit Februar 2017 keine neuen Flüchtlinge zugewiesen?

Genau. Hinzu kommt, dass wir auch nach dem „Königsteiner Schlüssel“, der die Verteilung noch nicht anerkannter Flüchtlinge auf die einzelnen Städte regelt, eine Quote von 103 Prozent erreicht haben, also auch hier unsere Pflicht mehr als erfüllt ist. Das alles heißt aber keineswegs, dass keine weiteren Flüchtlinge nach Essen ziehen.

Weil es Familiennachzug gibt?

Seit 2015 bis zum Ende des ersten Quartals 2017 sind insgesamt rund 3700 Personen im Rahmen des Familiennachzugs nach Essen gezogen. In den nächsten Jahren wird dieser Zustrom anhalten, denn wo bereits viele Flüchtlinge leben, gibt es auch viel Familiennachzug.

Wie hat sich denn die Zahl der Flüchtlinge entwickelt?

Aus den zwölf zugangsstärksten nichteuropäischen Herkunftsländern – Syrien, Irak, Afghanistan, Iran, Libanon, Algerien, Eritrea, Nigeria, Somalia, Marokko, Bangladesh und Pakistan – leben insgesamt 23 800 Personen in Essen. Der Großteil sind Flüchtlinge, aber auch Menschen die schon seit vielen Jahren hier leben.

Lässt sich das genauer aufschlüsseln?

Stärkste Gruppe sind die Syrer, Anfang 2015 lebten insgesamt 1350 in Essen. Gut zweieinhalb Jahre später – zum 31. August 2017 – waren es 10 190, davon nur 328 in einer unserer Flüchtlingsunterkünfte, alle anderen in Wohnungen. Die Anzahl hat sich also fast verachtfacht. Aus dem Irak sind in dieser Zeit zusätzlich 2402 Personen gekommen; zurzeit leben knapp 5000 Iraker in Essen. Aus Afghanistan stammen 1074 Personen, derzeit leben insgesamt 2268 in Essen.

Was bedeutet all das für den Sozialetat der Stadt Essen?

Die allermeisten Flüchtlinge, allein über 15 600 Menschen aus den fünf zugangsstärksten Ländern, sind Kunden im Essener Jobcenter, darunter sind rund 11 000 erwerbsfähige Leistungsbezieher. Sie leben mittlerweile in über 6600 Haushalten bzw. in Bedarfsgemeinschaften, die von der Grundsicherung des Jobcenters leben. Allein dies belastet den Haushalt der Stadt sehr stark. Wir müssen die Menschen aber auch integrieren, was weitere Kosten zur Folge hat.

Was konkret ist da zu leisten?

Wir müssen Kitaplätze und unsere Schulen ausbauen, wir müssen Sprachbildung und wirksame Bildungs- und Förderketten organisieren, damit wir die Menschen qualifizieren und sie in den nächsten Jahren zu Schulabschlüssen und beruflichen Qualifikationen führen und sie in Arbeit bringen. Darüber hinaus stellen wir einen extrem hohen Bedarf an psychosozialer Beratung, Unterstützung und Betreuung fest.

Die Wohnsitzauflage hat die Stadt in dieser Situation vor einer heillosen Überforderung bewahrt?

Ja, und mit Blick auf unsere Zahlen, muss sie deshalb auch bleiben, bis alle Städte und Regionen in NRW aufgeholt haben. Essen und andere große Städte des Ruhrgebietes sind wie eben dargelegt jetzt schon überproportional am Schultern von Integrationsleistungen beteiligt. Das darf sich auf keinen Fall noch durch die Aufhebung der Wohnsitzauflage verschärfen.

Was ist Ihre Forderung an die Landesregierung aus CDU und FDP?

Sie muss dafür Sorge tragen, dass wir überall in NRW gleiche Lebensverhältnisse gestalten können. Dazu gehört selbstverständlich auch, dass die Integration von Flüchtlingen gerecht verteilt wird. Ich fordere außerdem, dass die neue Landesregierung die Mittel in Höhe von 434 Millionen Euro endlich weiterleitet, die der Bund den Städten in NRW zur Verfügung gestellt hat. Für Essen sind das 12,7 Millionen Euro, die wir dringend für unsere massiv gestiegenen Integrationsaufgaben benötigen.

Für diese Forderung sind Sie von der Vorgängerregierung scharf kritisiert worden.

So ist es. Die Vorgängerregierung hatte bei diesem Thema klebrige Hände. Die neue Landesregierung kann ihre eigene Kritik aus Oppositionszeiten jetzt umkehren und den Kommunen endlich helfen. Das habe ich dem neuen Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) in einem persönlichen Gespräch vorletzte Woche verdeutlichen können. Ich bleibe dran!

Frank Stenglein