Essen. . Auch in Essen verlassen viele Kinder die Grundschule als Nichtschwimmer. Sie erhalten in Nachmittags-AGs und Ferienkursen Nachhilfe im Schwimmen.
- Deutschland sei auf dem Weg zum Nichtschwimmer-Land, warnt die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft (DLRG)
- So dramatisch sehen die Verantwortlichen in Essen die Lage nicht. Allerdings unternehmen sie auch große Anstrengungen
- So lernen viele Kinder erst in Nachmittags-AGs oder in Ferienkursen mit intensiver Betreuung schwimmen
Immer weniger Kinder könnten schwimmen, Deutschland sei auf dem Weg zum Nichtschwimmer-Land – so warnte dieser Tage die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft (DLRG). Nur 40 Prozent der Sechs- bis Zehnjährigen habe ein Schwimmabzeichen, ein Viertel der Grundschulen habe keinen Zugang zu einem Bad. Für Essen sehen die Zahlen laut Stadt viel besser aus. Freilich unternimmt man dafür auch große Anstrengungen von Schul-AG bis Ferienkurs.
Von der Infrastruktur her sei Essen „eine Insel der Glückseligen“, sagt Alfred Kirchem vom Schulsportreferat der Stadt. Dank zehn Hallenbädern und einer Handvoll Schulbäder erhalte jede Schule die nötigen Bahnzeiten für den Unterricht. Das sage noch nichts über die Schwimmfähigkeit der Kinder, und so habe die Stadt im Jahr 2015 eine auf fünf Jahre angelegte Erhebung an den Schulen begonnen: Am Schuljahresende werden alle Viertklässler befragt, nach den Sommerferien alle Fünftklässler – also jeweils dieselben Kinder. Der Rücklauf liege bei 70 bis 75 Prozent.
Viele Familien gehen nicht mit den Kindern schwimmen
Von den rund 5000 Kindern pro Jahrgang seien demnach nur 15 bis 18 Prozent Nichtschwimmer, sagt Kirchem. Das liegt auch daran, dass Essen mit einer anderen Definition arbeitet als die DLRG: „Für uns ist ein Schwimmer, wer 25 Meter sicher schwimmen kann.“ Die DLRG legt dagegen als Maßstab das Schwimmabzeichen in Bronze an, bei dem 200 Meter geschwommen werden müssen. Bronze – und höhere Abzeichen – erreichten in Essen zuletzt 55 Prozent der Viert- und Fünftklässler. Auch dieser Wert rangiert etwas über dem deutschen Durchschnitt.
Dennoch: Auch in Essen haben offenbar 45 Prozent eines vierten Schuljahrs bestenfalls das „Seepferdchen“ – und das eigentliche Klassenziel verfehlt. Kirchem wundert das nicht: Idealerweise müssten Eltern mit ihren Kindern schon im Vorschulalter baden gehen, sie zumindest ans Wasser gewöhnen. „Kinder, die völlig ohne Wassererfahrung in die Grundschule kommen, lernen dort oft nicht sicher schwimmen.“ Der Schwimmunterricht könne das gar nicht leisten, weil die Lehrer nicht mit ins Wasser gehen dürfen, sondern am Beckenrand Aufsicht führen.
Die Studenten gehen mit ihren Schülern ins Becken
„Gerade im Norden der Stadt sind die Eltern beim Schwimmenlernen nicht so hinterher“, bestätigt der Geschäftsführer des Essener Sportbundes (Espo), Wolfgang Rohrberg. Die Schule allein könne die Defizite der Familien nicht ausgleichen. Darum haben sich Espo, Stadt und Uni Duisburg-Essen im Herbst 2016 zusammengetan, um Grundschulen in den nördlichen Stadtteilen zu unterstützen und „so die Schwimmfähigkeit der Kinder zu verbessern“. Das Pilotprojekt ist an der Grundschule im Nordviertel und der Hövelschule angelaufen und etwa auf Neuessener Schule, Karlschule und Schule an der Rahmstraße ausgeweitet worden.
Der Ansatz ist denkbar einfach: „Insgesamt 25 Studierende begleiten die Lehrer in den Schwimmstunden und gehen mit den Schülern ins Wasser“, erklärt Prof. Ulf Gebken. Das sei vor allem hilfreich, wenn die Kinder aus Zuwanderer- oder Flüchtlingsfamilien stammen und kaum Deutsch beherrschen. „Es ist eins der erfolgreichsten Projekte, die wir je gemacht haben“, sagt Gebken, der mit Studenten auch offene Sonntage in Schulturnhallen organisiert.
Die Baderegeln gibt es längst in vielen Sprachen
Den ersten Erfolgen und der immensen Nachfrage der Schulen stehe leider das „große Pech“ gegenüber, dass das Thurmfeld-Bad seit mehr als drei Monaten geschlossen ist. Gut 15 Kurse habe man in dem Sportbad im Nordviertel angeboten und „Riesenfortschritte“ gerade bei türkischen und arabischen Kindern gesehen. Derzeit biete man noch acht Kurse in der Alten Badeanstalt in Altenessen an. Die Auswertung der Arbeit habe man zurückstellen müssen: „Die Bad-Schließung hat das Projekt und die Kinder zurückgeworfen.“
Aufs Thurmfeld-Bad ist auch die Sparte Schwimmen – Dachorganisation der Essener Schwimmvereine – angewiesen: Seit acht Jahren organisiert sie mit Landesmitteln und zusammen mit dem Schulamt Schwimmkurse zur Ferienzeit: Zwei Wochen lang haben die maximal zwölf Kinder pro Gruppe täglich 45 Minuten Unterricht mit intensiver Betreuung. „Gut die Hälfte der Kinder kommt als Nichtschwimmer und hat am Ende nicht nur Seepferdchen, sondern gleich das Bronze-Abzeichen gemacht“, sagt Sandra Poppe, Geschäftsführerin der Sparte Schwimmen.
Das Angebot wende sich an Kinder der Klassen 4 bis 6, „die im Schulsport durch die Maschen gerutscht sind, weil sie lange krank waren oder sehr ängstlich sind“. Einzelne Flüchtlingskinder hätten sogar ansehen müssen, wie Verwandte ertranken. Bei den meisten von ihnen sei Schwimmen im Heimatland keine Kulturtechnik, die jeder beherrsche. „Wir haben die Baderegeln inzwischen in fast allen Sprachen. Weil wir mit im Becken sind, können wir den Kindern vieles anschaulich vormachen“, sagt Sandra Poppe. In den Oster- und Herbstferien haben die Kurse meist 100 Teilnehmer, im Sommer etwa 80. Bleibt zu hoffen, dass das Thurmfeld in diesen Sommerferien rechtzeitig wieder geöffnet wird.
>>> An dieser Schule bleibt niemand wasserscheu
Als beispielhaft lobt Professor Ulf Gebken von der Uni Duisburg-Essen das Konzept des Gymnasiums Essen Nord-Ost (Geno). Die Schule schaffe es, die Schwimmfähigkeit von Zuwandererkindern bis zum Ende der sechsten Klasse von 40 auf 98 Prozent zu erhöhen. Gelungen sei das mit einem ganzheitlichen Ansatz, vielen Partnern – und langem Atem, sagt Tobias Fenske, der am Geno Englisch und Sport unterrichtet.
Vor sechs, sieben Jahren habe man an der Schule festgestellt, dass mehr als die Hälfte der Fünftklässler Nichtschwimmer seien, etliche hätten nicht mal das Seepferdchen. „Viele Familien erschließen den Wasserraum gar nicht für ihre Kinder, andere gehen nur in Spaßbäder. Die Schwimmkultur geht verloren“, sagt der 34-Jährige. Bloß helfe es wenig, die Verantwortung der Eltern festzustellen und darauf zu pochen, dass die Kinder am Ende der Grundschule schwimmen können müssten. Am Nord-Ost-Gymnasium steckt man lieber alle Fünftklässler, die nicht schwimmen können, in eine verpflichtende Schwimm-AG. Die vier- bis fünfzügige Schule läuft ohnedies im Ganztagsbetrieb, auch die Mitschüler sind nachmittags in AGs.
Hier kann jeder in seinem Tempo lernen
In der Schwimmgruppe wurden die Kinder anfangs von Sportlehrern betreut, später kamen Referendare und Praktikanten hinzu, heute arbeitet man mit dem Polizeisportverein (PSV) zusammen. Der wiederum setzt für das Training auch junge Leute ein, die ein Freiwilliges Soziales Jahr machen. So wurde der Betreuungsschlüssel stetig besser, heute gehen fünf bis sechs Begleiter mit 30 bis 35 Schülern ins Bad. So könne man sehr differenziert unterrichten, könne jeder in seinem Tempo lernen.
Außerdem hat die Schule eine Schwimmtechnik entwickelt, die leicht zu erlernen ist: „Damit überwinden die Kinder schnell ihre Ängste und können im tiefen Wasser schwimmen.“ Spätestens zu Beginn der 6. Klasse machten die Schüler das Bronze-Abzeichen und könnten am regulären Schwimmunterricht teilnehmen. Gleichzeitig lernen sie bei Ausflügen an Seen oder bei Klassenfahrten ans Meer, dass Wassersport auch Vergnügen ist. Gestemmt wird das intensive Schwimmprojekt durch Stiftungen, den Förderverein sowie den PSV, bei dem mittlerweile einige Schüler trainieren.
Burkini, Badeanzug, Badehose – das spielt keine Rolle
Zuletzt sei die Arbeit wieder aufwendiger geworden, weil fast alle Flüchtlingskinder Nichtschwimmer sind, sagt Fenske. Oft werde er nach Ärger mit Kopftuch und Kleidervorschriften gefragt: „Es gibt damit keine Probleme: Die Schülerinnen tragen Burkini, und keiner stört sich daran. Für mich zählt, dass sie im Wasser sind und dass sie genug Deutsch können, um die Grundkommandos zu verstehen.“
Langfristig hofft Fenske, dass Schwimmen wieder in den Familien vermittelt wird: „Bei uns lernt jeder so sicher schwimmen, dass er es später seinen Kindern beibringen kann.“