Essen-Kray. . Die Höhe der Hecke, Kinderlärm, Backpfeifen oder Beleidigung: Stefan Hagemann aus Kray vermittelt seit zehn Jahren als Schiedsmann.
Seine Ehrenämter führten Stefan Hagemann (51) in eine katholische Teestube, als Sanitäter zu Einsätzen mit dem Rettungswagen und als Schöffe vor Gericht. Nun vermittelt er als Schiedsmann in Streitfällen wie zu hohen Hecken, Lärm, Backpfeifen oder Beleidigungen. Zuständig ist er für den Bezirk Steele/Kray und mit 51 Jahren jüngster Schiedsmann Essens.
An seiner Hausfassade hängt das Schild, das auf die kleinste dienstsiegelführende Behörde hinweist. Kaum war die Familie, zu der seine Frau und sechs Kinder zählen, damals aus Steele nach Kray gezogen, schon folgte der allererste Fall, erinnert sich Stefan Hagemann.
„Hinter jedem Fall steckt eine Geschichte“
Das Lüften des Treppenhauses, Schiedsrichterbeleidigungen, Parkplatzärger, Verleumdung, Verletzung des Postgeheimnisses oder der Grenzverlauf zweier Grundstücke: All diese Themen hat das Amt an seinen Küchentisch gebracht. „Hinter jedem Fall steckt eine Geschichte“, weiß der Schiedsmann nach zehn Jahren im Amt über Ärger, der mitunter seit Jahren schwelt.
Viele Details nennt er nicht, immerhin unterliegt er der Schweigepflicht. Nur so viel: Ihm selbst bleiben weniger Klassiker wie Jägerzäune oder Blöde-Kuh-Rufe im Gedächtnis hängen, sondern eher Kurioses. In einem Fall war das Opfer ein Baum. „Den sollten Nachbarn mit Corega-Tabs vergiftet haben“, nennt der Schiedsmann den Vorwurf. Mag absurd klingen, hätte aber die Besitzerin ein Gutachten erstellen lassen, hätte er das Verfahren eröffnen müssen: „Anträge darf ich nicht ablehnen.“
Zuständig auch in Strafrechtsfällen
Abgesehen von Fällen des bürgerlichen Rechts ist er für Strafrechtsfälle zuständig. Diese leitet die Staatsanwaltschaft weiter, wenn sie Strafanzeigen einstellt. Bei Männern sind es vor allem Körperverletzungen, bei Frauen Beleidigungen. Oft streiten sich vor allem Ältere. Insgesamt führt Stefan Hagemann etwa zwölf Verhandlungen im Jahr, drei Stunden Zeitaufwand bedeutet jede samt Niederschrift. Hinzu kommen die Angelegenheiten, in denen er eine Partei unter vier Augen von der Aussichtslosigkeit eines Verfahrens überzeugt.
Bevor dann Antragsteller und Gegner sich gegenüber sitzen und die
Familie für dieses Aufeinandertreffen das Haus verlassen hat, sind Aufnahmegespräch und Ladung erfolgt. Bei einer Strafsache ist das Erscheinen Pflicht, sonst droht Bußgeld. Das Ziel der Verhandlung: „Die Parteien sollen aufeinander zugehen und sich einigen“, erklärt der Schiedsmann. Dabei könne jeder einen Beistand wie etwa Freund oder Anwalt mitbringen.
Geschlossene Vergleiche gelten 30 Jahre lang
Die Beteiligten sollen Lösungen finden und das Gefühl haben, dass es keinen Verlierer gibt und sie weiterhin nebeneinander leben können. Stefan Hagemann lenkt das Gespräch, schlägt Lösungen vor, bestenfalls endet das Verfahren mit einem Vergleich, der dann 30 Jahre lang gilt. Scheitert es, ist der Klageweg offen.
Zuvor geht es am Küchentisch mitunter laut und emotional her. Manche Streithähne einigen sich erstaunlich sachlich. Andere verharren bei völlig gegensätzlichen Versionen. „Nirgends wird so viel gelogen wie an diesem Tisch“, sagt Stefan Hagemann, dem beim Schlichten nicht nur gesunder Menschenverstand helfe, sondern auch seine Erfahrungen im Hauptberuf. Als Krankenpfleger auf der Intensivstation des Uniklinikums ist der 51-Jährige mit Menschen in Extremsituationen konfrontiert, hat gelernt, auf sie zuzugehen.
Grenze wäre Bedrohung der Existenz oder der Familie
Mit seinem Amt als Schiedsmann will der Familienvater seinen Kindern auch das Ehrenamt vorleben. Mit Erfolg, immerhin engagieren sich bereits drei von ihnen selbst ehrenamtlich. Seine Frau hätte allerdings einmal beinahe die Reißleine gezogen. Ein Anwalt verlangte Schadensersatz, weil er überzeugt war, ein Vergleich sei zu Ungunsten seines Mandanten geschlossen worden. „Dabei notiere ich nur, worauf die Parteien sich verständigen“, sagt Stefan Hagemann. Plötzlich lautete die Forderung 10 000 Euro. Dieser Fall ging für ihn zwar am Ende gut aus. Fest steht aber, dass es zwei Gründe für ihn gibt, das Amt aufzugeben: die Bedrohung seiner Existenz oder der Familie.
Diese sei mit dem Schiedsamt ohnehin öffentlich. Wenn die Kinder laut sind, der Hund anhaltend bellt oder der Vorgarten mal ungepflegt wirkt, schauten die Nachbarn bei ihnen doch ganz anders hin. Zudem hat das Ehrenamt ihren Alltag in einem Punkt verändert: „Wir kaufen nicht mehr in Kray, sondern in Bochum oder Gelsenkirchen ein“, sagt der 51-Jährige, der das nicht glauben wollte, als sein Mentor ihm das einst vorhersagte. Inzwischen weiß er: Heute Schiedsmann, morgen Stefan an der Wursttheke – das ist schwierig.
>>UNBESETZTE SCHIEDSAMTSBESZIRKE
In Essen gibt es 18 Schiedsamtsbezirke, von denen vier nicht besetzt sind. Sie werden von den 14 Zuständigen vertretungsweise mit betreut, sagt Stefan Hagemann, der seit 2016 auch Vorsitzender der Bezirksvereinigung Essen im Bund Deutscher Schiedsmänner und Schiedsfrauen ist.
Unbesetzt sind Südviertel/Huttrop/Frillendorf; Bocholt/Bergeborbeck; Karnap/Altenessen-Nord/Vogelheim und Altendorf.
Wer ein Schiedsamt übernehmen will, muss mindestens 30 Jahre alt sein, darf keine Vorstrafen haben und muss im entsprechenden Bezirk wohnen. Gewählt werden Schiedsleute von der Bezirksvertretung. Sie werden vom Amtsgericht für fünf Jahre vereidigt. Das ist die Dienstaufsichtsbehörde gewählter Schiedspersonen. Interessenten für das Amt können sich bei der Bezirksvertretung oder dem Rechtsamt der Stadt Essen melden.