Den Druck hinter den Lehren kennen

Essens Sekten-Info ist weiter gefragt: „Im vergangenen Jahr hatten wir fast 1000 Beratungen – davon 500 Intensivfälle“, berichtet Sabine Riede, Leiterin der Beratungsstelle Sekten-Info NRW e.V.. Bei nur vier Stellen ist das eine stolze Leistung. Aber Riede und ihr Team wissen: „Nachdem die Zahlen mehrere Jahre hintereinander gestiegen sind, sind sie nun zumindest konstant.“

Meist ging’s um die Zeugen Jehovas

Sechs Prozent der 500 Personen, die in 2016 in der Rottstraße 24 intensive Hilfe bekommen haben, kamen aus Essen. „Es ist in Zeiten von Telefon und Internet auch kein Problem, wenn man Hilfe sucht, aber weiter weg wohnt.“ Man müsse nur einmal zum Kennenlernen in die Beratungsstelle kommen, damit sich ein Vertrauensverhältnis aufbauen könne, erklärt die Pädagogin und Kinderschutzfachkraft weiter.

In sieben der etwa 30 Fälle ging es um die Zeugen Jehovas, in dreien um Scientology. Zwei Mal wurde Hilfe gesucht wegen der „Shinchonji-Sekte“, auch „Vereint in Jesus“ genannt. „Große Sorgen macht uns auch Robert Betz – er füllt große Hallen und bietet eine ,Transformationstherapie zu schnellem Glück’ an“, sagt Christoph Grotepass, stellvertretender Leiter der Beratungsstelle. Betz motiviere seine Anhänger zur Selbstverwirklichung, zu einem Veränderungswunsch der Marke Extrem. Das Problem: „Sie kommen aus seiner Veranstaltung raus und kündigen leichtsinnig Jobs oder brechen Beziehungen ab“, erklärt der 51-jährige Theologe.

Mit Besorgnis sehe er auch den Zulauf zu Esoterik- und Heilerkulten, wie beispielsweise dem „Bruno Gröning Freundeskreis“, der sich nun „Verein für natürliche Lebenshilfe“ nenne. Esoterik-Begeisterte meldeten sich eher spät zur Beratung, der Grund: „Mitgliedschaft in Esoterik-Gruppen, Heilsteine und ähnliches wird heute als ,spleeniges Hobby’ betrachtet, nicht als Gefahr“, so Grotepass.

Doch wie rutscht man überhaupt in eine Sekte ab? Riede: „Krisen treffen jeden und dann ist der Einstieg in so eine Gruppe leicht.“ Hilfe suchten sich die Betroffenen häufig erst nach vier bis fünf Jahren Zugehörigkeit.

Neulinge sind die Lieblinge

Riede: „Am Anfang ist ,lovebombing’ angesagt, die Neulinge sind die Lieblinge der Gruppe.“ Später, wenn der Alltag eingekehrt sei und ein ehemaliger Liebling mal krank werde, verstehe er nicht, dass sich keiner aus der Gruppe dafür interessiere. „Oder er sieht, dass in der Gruppe eine Doppelmoral herrscht – das verunsichert ihn und dann möchte er mit einem Außenstehenden sprechen“, ergänzt Grotepass.

Ein Therapeut könne diese Arbeit in der Regel nicht übernehmen, denn dafür fehlt ihm das Sekten-Fachwissen. „Es ist wichtig, dass wir den Betroffenen Verständnis entgegen bringen und auch die Lehren, sowie den Druck dahinter kennen“, sagt Riede. Freunde belächelten die Betroffenen meist oder übten Druck aus, in der Beratungsstelle hätten sie stattdessen einen geschützten Raum. „Wir unterliegen der Schweigepflicht, sprechen mit keinem über die Klienten und nennen sowieso niemals Namen“, gibt die 56-Jährige an. Es gebe nur eine Ausnahme: „Wenn konkret ein schweres Verbrechen wie zum Beispiel Mord geplant ist, dann müssen wir das weitergeben.“ Für alle Fälle gehöre eine Rechtsanwältin zum Verein. Diese kümmere sich aber auch um Sorgerechtsfragen und Geldrückforderungen der ehemaligen Sektenmitglieder.