Essen. . Kirchenhistoriker Franziskus Siepmann über die Gründung des Bistums Essen vor 60 Jahren: Das große Gefeilsche um Gläubige, Geld und Zuschnitte.

Als vor genau 60 Jahren die Verträge zur Gründung des Bistums Essen endlich in Kraft treten konnten, war diesem Akt ein heftiges Feilschen um den richtigen Zuschnitt vorausgegangen. Am 26. Februar 1957 schließlich tauschten der Abgesandte des Papstes, Erzbischof Aloisius Muench, und NRW-Ministerpräsident Fritz Steinhoff (SPD) die Ratifizierungsurkunden aus.

Damit wurde der Vertrag zur Gründung des Ruhrbistums zum 1. Januar 1958 rechtskräftig. Franz Hengsbach nahm seinen Platz als Gründungsbischof ein, bis heute ist der charismatische Sauerländer unvergessen. Essen war Bischofsstadt, für die Zentralfunktion der Stadt im Ruhrgebiet hatte das eine nicht geringe Bedeutung.

Der aus Essen stammende Kirchenhistoriker Franziskus Siepmann hat sich intensiv mit der Geschichte des Ruhrbistums beschäftigt.
Der aus Essen stammende Kirchenhistoriker Franziskus Siepmann hat sich intensiv mit der Geschichte des Ruhrbistums beschäftigt. © Achim Pohl

Wie es zur Bildung der Diözese kam und welche Widerstände es gab, darüber sprach Andreas Otto von der Katholischen Nachrichtenagentur KNA mit dem Kirchenhistoriker Franziskus Siepmann, der gebürtiger Essener ist und in Köln arbeitet.

Herr Siepmann, in Ihrer Dissertation „Mythos Ruhrbistum“ haben Sie sich mit der Entstehung der Diözese Essen befasst. Wie kam es zum Ruhrbistum?

Siepmann: Schon in den 1920er Jahren gab es unter dem damaligen Nuntius Eugenio Pacelli und späteren Papst Pius XII. den Versuch, für die Industrieregion an der Ruhr ein eigenes Bistum zu errichten. Erst in den 1950er Jahren wurde diese Idee wiederbelebt.

Von wem ging die Initiative aus?

Treibende Kraft war Bischof Michael Keller, der von 1947 bis 1961 die Diözese Münster leitete. Er beobachtete im urban geprägten Südzipfel seiner Diözese mit Städten wie Duisburg oder Oberhausen eine Erosion des religiösen und kirchlichen Lebens. Keller machte also einen pastoralen Missstand aus, auf den er mit einer besonders zugeschnittenen Arbeiterseelsorge reagieren wollte. Es ging ihm also darum, die soziale Frage mehr in den Blick zu nehmen. Seinen Vorschlag unterbreitete er über den Nuntius nach Rom.

Das Ruhrgebiet erstreckte sich damals kirchlich aber auch über große Teile der Erzdiözesen Köln und Paderborn. Wie kam dort die Idee an?

Die Erzbischöfe von Köln und Paderborn, die Kardinäle Josef Frings und Lorenz Jaeger, waren wenig begeistert. Sie wussten indes lange nicht, wer hinter der Initiative stand. Denn Keller hatte Rom um Vertraulichkeit gebeten. Die ablehnende Haltung vor allem von Jaeger zog sich durch die ganzen Verhandlungen.

Und Kardinal Frings?

Er hatte eine Einsicht in das Konzept, die Seelsorge auf die Berg- und Stahlarbeiter abzustimmen, und war kompromissbereiter. Ihm schwebte alternativ ein niederrheinisches Bistum mit Xanten als Bischofsstadt vor – eine Variante, in der Paderborn keine Flächen hätte abgeben müssen. Die Idee fand aber keinen Widerhall.

Worin lagen die Paderborner Widerstände begründet?

Ganz im Gegensatz zur späteren Entwicklung herrschte in den 1950er Jahren der Fortschrittsoptimismus, dass sich das Ruhrgebiet zu einer wirtschaftlich starken Region mit acht Millionen Einwohnern entwickeln würde. Paderborn sagte damals: Wir wollen kein Mammut-Bistum. Und damit verbunden stand die Aussage: Wir wollen kein Mammon-Bistum, also eine Diözese mit hohen Kirchensteuereinnahmen. Es gab ein großes Gefeilsche um Städte, Katholikenzahlen und potenzielle Kirchensteuereinnahmen. Pastorale Aspekte spielten in den Verhandlungen zwischen den beteiligten Bischöfen keine Rolle.

Und wie ging das aus?

Die Ruhrgebietsstädte Dortmund, Herne, Castrop-Rauxel, Wanne-Eickel und Witten blieben bei Paderborn, das auf seine Diasporagebiete und die dafür notwendigen Kirchensteuereinnahmen verwies. In der Erzdiözese sollte auf Basis der innerkirchlichen Verhandlungen sogar Bochum verbleiben. Erst in den Folgeverhandlungen zwischen Staat und Kirche drängte der damalige nordrhein-westfälische Ministerpräsident und katholische CDU-Politiker Karl Arnold darauf, Bochum dem neuen Bistum zuzuschlagen. Das war aber nicht der einzige Geburtsfehler mit Blick auf das Ziel, ein Format für die Industriearbeiter-Seelsorge zu schaffen. Denn die Diözese bekam bewusst Teile des ländlich und protestantisch geprägten Märkischen Sauerlandes. Damit wurde die angestrebte homogene Struktur des Ruhrbistums noch einmal aufgebrochen.

„Hengsbach galt als volksnaher Bischof“

Wie wurde dieser Zuschnitt, der die traditionellen regionalen Grenzen durchbrach, begründet?

Es hieß, dass es für ausgebrannte Großstadtpriester andere Betätigungsfelder in der Diözese auf dem Land geben müsse, damit sie sich dort erholen können.

Dennoch, nachdem Franz Hengsbach am 1. Januar 1958 als erster Ruhrbischof sein Amt antrat, entwickelte die Diözese ein sehr soziales Profil.

Durchaus. Hengsbach galt damals als volksnaher und progressiver Bischof und wurde als Idealbesetzung betrachtet. Schon als Paderborner Weihbischof trug er seinen Bischofsring mit Kohlestück. Und als Generalsekretär des Deutschen Katholikentags 1949 in Bochum hatte er deutliche Akzente zur sozialen Frage gesetzt. Hengsbach schwamm zunächst auf einer breiten Woge öffentlicher Sympathie. Unzählige Betriebsbesuche, Grubenfahrten und seine Beteiligung an Demos gegen Massenentlassungen prägten sein Bild vom Anwalt des kleinen Mannes. Mit der Begeisterung war es dann in den 1960er Jahren vorbei, als sich der Bischof als strenger Verfechter des Lehrschreibens „Humanae vitae“ von Paul VI. mit der Absage an künstliche Geburtenkontrolle zeigte.

Was wurde aus den ursprünglichen Zielen für das Ruhrbistum?

Auch wenn man Hengsbach als Arbeiterbischof bezeichnen kann - das Bistum Essen war zu keinem Zeitpunkt ein wirkliches Arbeiterbistum. Es gab zwar ein großes Bemühen, die Arbeiterschaft zu erreichen: Es wurden Mitarbeiter besonders geschult und eingesetzt, neue pastorale Ansätze aus Frankreich und Belgien erprobt, Betriebspraktika für angehende Priester eingeführt, sogenannte Betriebskerne zur religiösen Stärkung der Arbeiter in den Zechen und Fabriken errichtet. Zudem setzte Hengsbach auf ein engmaschiges Pfarrei-Netz und baute 100 neue Kirchen. Trotz allem nahm der Kirchenbesuch stetig ab.

Angesichts sinkender Katholiken- und Priesterzahlen ringt das Bistum Essen heute um einen neuen Weg in die Zukunft. Was können andere Diözesen daraus lernen?

Im Ruhrgebiet mit seinen heute 800 000 Katholiken zeigt sich der Veränderungsdruck mit einer Abkehr von der Volkskirche viel stärker als in anderen Regionen Deutschlands. Nicht ohne Grund ist dort in den zurückliegenden Jahren das vermutlich alternativlose Modell der Großpfarrei entstanden. Und im Zukunftsbild-Projekt geht es intensiv der Frage nach, wie es Menschen erreichen kann, die in Distanz zur Kirche stehen. Das neue Bistumsmagazin „Bene“ oder die Präsenz der Diözese in den neuen sozialen Netzwerken sind zum Beispiel Versuche, die Kirche auch außerhalb ihrer Mauern relevant werden zu lassen.

>> „MYTHOS RUHRBISTUM“ BEI KLARTEXT

Franziskus Siepmann, Geschäftsführer des katholischen Verbands ND (Bund Neudeutschland), hat sich als Kirchenhistoriker intensiv mit der Geschichte des Ruhrbistums beschäftigt.

Die Doktorarbeit des gebürtigen Esseners erscheint in der zweiten Jahreshälfte 2017 im Klartext-Verlag. Titel: „Mythos Ruhrbistum. Identitätsfindung, Innovation und Erstarrung im Bistum Essen 1958–1970“.