Essen. . Die Aufgaben des Landes-Programms werden nicht nur zwei Sozialarbeitern übertragen. Die ganze Stadtverwaltung soll darauf ausgerichtet sein.
- Das Präventionsprojekt „Wegweiser“ soll im ersten Quartal des neuen Jahres starten
- Die Stadt nimmt mit vielen Partnern Jugendliche, die sich radikalisieren, in den Fokus
- Lehrer und Jugendhelfer werden qualifiziert, um gefährliche Tendenzen früh zu erkennen
Die Erkenntnis kam explosionsartig: Seit dem Bombenanschlag zweier islamistisch verblendeter Jugendlicher auf den Sikh-Tempel in der Bersonstraße ist nicht nur Verfassungsschützern klar, dass der Terror die Stadt längst erreicht hat. „Die Gefährdungslage ist bundesweit gegeben – auch in Essen“. Daran hat Ordnungsdezernent Christian Kromberg inzwischen keinerlei Zweifel mehr. Die salafistische Strömung werde spürbar breiter.
Um zu verhindern, dass sie noch mehr haltlose junge Menschen mit sich reißt, und um gleichzeitig extremistischen Blendern das Wasser abzugraben, startet im ersten Quartal des neuen Jahres das Präventionsprogramm des Landes NRW „Wegweiser – gemeinsam gegen den gewaltbereiten Salafismus“.
Aufgabe nicht zwei Sozialarbeitern allein überlassen
Während diejenigen, die sich wie die Bombenbauer von der Bersonstraße bereits so weit radikalisiert haben, dass sie Verbrechen begehen, ein Fall für die Justiz, die Polizei und den Verfassungsschutz sind, nimmt die Stadt Essen sich bald verstärkt einer anderen Gruppe an: „Die, die in unserem Fokus stehen werden, sind die, die sich gerade radikalisieren“, kündigt Kromberg an: „Darauf wird die gesamte Stadtverwaltung ausgerichtet. Das Thema Religion und Gewalt ist eins, mit dem wir uns alle intensiv auseinandersetzen müssen.“
Und es kommt derart vielschichtig daher, dass man diese Aufgabe nicht den zwei Sozialarbeitern allein überlassen will, die – vom Land weitestgehend mit 80 000 Euro pro Jahr finanziert – in Kürze eingestellt werden sollen. Vielmehr zeigt „Wegweiser“, das wohlgemerkt kein Aussteiger-, sondern vielmehr ein Nichteinsteiger-Programm mit Hilfsangeboten für ganze Familien ist, in dieser Stadt in eine etwas andere Richtung als in anderen Kommunen: „Wir werden Wegweiser so aufstellen, dass es Teil des gesamten vorhandenen Präventionsnetzwerks unserer Stadt wird“, sagt der Ordnungsdezernent.
Erkenntnisdefizite sind nicht von der Hand zu weisen
Eingebunden sind nicht nur die Polizei, der Staats- und Verfassungsschutz. Auch Erzieherinnen in Kitas, Lehrer in Schulen und Mitarbeiter von Jugendeinrichtungen müssten geschult und sensibilisiert werden, um ein Gespür für Veränderungen bei ihren Schützlingen zu bekommen und gleichzeitig unterscheiden zu können: Was sind unbedenkliche Formen eines tief religiösen Verhaltens, wo deutet sich eine beginnende Radikalisierung an?
„Nicht jeder, der seinen Gebetsteppich in der Schule ausrollt, ist auf dem Weg, ein Terrorist zu werden“, appelliert Kromberg an die Sensibilität der Lehrer und Sozialarbeiter, wohlwissend, „dass die richtige Differenzierung im Einzelfall natürlich schwierig ist“.
Konferenzen sollen sich mit Einzelfällen beschäftigen
Denn deutliche Erkenntnis-Defizite sind nicht von der Hand zu weisen: Um Radikalisierung bei Jugendlichen vorbeugen zu können, „müssen wir noch viel besser verstehen, was in ihnen vorgeht. Nur dann können wir auch dagegen vorgehen“, räumt Kromberg ein. So weit ist selbst die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema nicht, und in der Praxis mangelt es oft an Erfahrung. Allein die Erkenntnis, dass nahezu alle für den gewaltbereiten Salafismus anfälligen jungen Menschen aus eher prekären Verhältnissen stammen und in ihrer empfundenen Verliererrolle anfällig werden für die Heldenlügen von Fanatikern im Internet, reicht als Erklärung des Phänomens einfach nicht aus.
In so genannten Fallkonferenzen soll deshalb künftig jedwede Erkenntnis über jeden einzelnen womöglich gefährdeten Jugendlichen eingespeist werden, um passende Hilfen zu entwickeln. Kromberg geht von einer „größeren zweistelligen Zahl“ derer aus, die für „Wegweiser“ in Frage kommen. „Es wird sicherlich auch Misserfolge geben, aber keine 99 Jugendlichen, die sich morgen in die Luft jagen.“