Essen. . Verdi-Geschäftsführer Lothar Grüll spricht im Interview über seine Bilanz bei der Gewerkschaft und seinen Wechsel zur Stadt-Holding EVV.

Er gilt als einflussreicher und leidenschaftlicher Gewerkschafter. Umso überraschender war seine Ankündigung. Der Geschäftsführer von Verdi Essen, Lothar Grüll, geht zum Jahresende. Der Oberhausener ist seit 2008 Chef des örtlichen Bezirks, aber schon seit 1991 gewerkschaftlich in Essen aktiv. Der 65-Jährige wechselt gemeinsam mit dem heutigen Stadtkämmerer Lars Klieve, mit dem er sich manche Auseinandersetzung geliefert hat, an die Spitze der Essener Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft (EVV).

Unter dem Dach dieser Holding sind mehrere Stadttöchter, darunter Evag und Stadtwerke, gebündelt. Die Berufung gilt als kluger Schachzug des Oberbürgermeisters, der sich mit Grülls Hilfe mehr Akzeptanz bei den Arbeitnehmern für die anstehenden Veränderungen erhofft. Wie Grüll seine Zeit bei Verdi sieht und was in den nächsten 20 Monaten von ihm zu erwarten ist, darüber sprachen wir mit ihm.

Grüll will Arbeitsplätze bei der EVV erhalten

Warum haben Sie sich für den Wechsel zur EVV entschieden?

Lothar Grüll: Ich sehe darin eine Herausforderung, die ich gern annehme. Schließlich geht es darum, die städtische Holding auf neue Füße zu stellen und dabei die Arbeitsplätze in den verbundenen städtischen Tochterunternehmen zu sichern. Das ist der wesentliche Teil.

Sie sind 65 Jahre alt. Gewerkschaften sehen ihre Mitglieder in dem Alter ja eigentlich lieber im Ruhestand.

Wie es bei Verdi in Essen weiter geht

Wenn Lothar Grüll geht, wird seine Stellvertreterin Vera Winnemund kommissarisch übernehmen. Sie soll jedoch keine Ambitionen haben, die Stelle dauerhaft zu besetzen.

Grülls Stelle soll ausgeschrieben werden. Unklar ist noch, ob Verdi bereits einen Geschäftsführer für einen fusionierten Bezirk Essen-Mülheim-Oberhausen sucht oder erst einmal eine Übergangslösung anstrebt bis zur Fusion in einem Jahr. Die anstehende Fusion dürfte auch für Grüll einer der Beweggründe gewesen sein, warum er sich für die neue Aufgabe bei der EVV entschieden hat.

Die Aussage stimmt so nicht ganz. Verdi hat sich dafür ausgesprochen, dass die Altersrente viel flexibler gestaltet werden muss. Starre Altersgrenzen sind falsch. Aber keine Sorge, das gesetzliche Rentenalter von 67 werde ich nicht überschreiten, sondern dann als Geschäftsführer ausscheiden.

Sie verlassen Verdi Essen ausgerechnet in einer Umbruchzeit, haben selbst keinen Nachfolger aufgebaut. Schwächt das nicht den Bezirk Essen und seine Interessen in der anstehenden Fusion mit Mülheim-Oberhausen?

Nein, wir haben ja keine feindliche Übernahme vor uns. Sondern es geht darum, schlagkräftiger zu werden. Die Entscheidung zur Fusion ist bereits 2016 beschlossen worden. Jetzt geht es nur noch darum, die Dinge zueinanderzubringen. Ich habe da großes Vertrauen, dass die Kollegen das können. An meine Person ist das nicht gebunden, das würde ja bedeuten, dass ich unersetzbar wäre, was ich nicht bin.

„Verdi hat in Essen an Einfluss gewonnen“

Sie gelten aber schon als Gewerkschafter mit großem Einfluss. Manche bezeichnen Sie auch als Machtmenschen.

Natürlich bin auch ein Stück weit Machtmensch. Das gehört zu einem Gewerkschafter in meiner Position dazu. Aber nochmal: Ich verlasse Verdi guten Gewissens.

Gewerkschaften erleben bundesweit eine Renaissance. In welchen Zustand hinterlassen Sie den Bezirk Essen?

Was die EVV ist und wie sie umgebaut wird

Die Essener Versorgungs- und Verkehrsgesellschaft mbH (EVV) ist eine 100-prozentige Tochter der Stadt. Sie wurde 1979 mit dem Ziel gegründet, einen steuerlichen Querverbund durch Verrechnung der Verluste der Evag mit den Gewinnen der Stadtwerke zu bilden. Später kamen der Allbau, die EBE und die RGE Servicegesellschaft hinzu.

War sie zunächst eine reine Finanzholding, hatte sie später auch Managementfunktionen. Es gab zum Beispiel eine zentrale IT oder Personalaufgaben. Die fünf Geschäftsführer der Töchter waren gleichzeitig EVV-Chefs.

Nun soll die EVV nach Beschluss des Stadtrates wieder schlanker und eine reine Finanzholding werden, weil sich Prozesse doch nicht als so effektiv herausgestellt haben. Künftig werden nur noch die Evag und die Stadtwerke – um den steuerlichen Querverbund zu sichern – sowie die EBE in der EVV bleiben.

Einziger hauptamtlicher Geschäftsführer der EVV wird Lothar Grüll sein, der das neue Konstrukt aufstellen soll. Nebenamtlicher Geschäftsführer wird der bisherige Stadtkämmerer Lars Martin Klieve, der nächstes Jahr Stadtwerke-Vorstand werden soll.

Verdi in Essen hat in den vergangenen Jahren sehr an Einfluss gewonnen. Uns ist es gelungen, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Betriebs- bzw. Personalräten zu entwickeln. Wir ziehen an einem Strang. Bei den Mitgliederzahlen stagnieren wir hingegen immer um die 30 000. Wir sind da von jedem größeren Arbeitsplatzabbau direkt betroffen, was unsere Erfolge an anderer Stelle zunichte macht.

Im öffentlichen Sektor in Essen ist Verdi in der Tat stark. Dagegen tut sich die Gewerkschaft im Niedriglohnbereich sehr schwer. Warum?

In diesen Firmen haben wir kaum eine Chance, in die Belegschaften reinzukommen. Wir treffen dort häufig auf wenig solidarische Bereiche. Hinzu kommt, dass vielen Mitarbeitern Selbstvertrauen fehlt. Bei vielen herrscht Angst. Im Wach- und Sicherheitsbereich zeigen sich aber erste Erfolge unserer Arbeit. Dort steigt der Organisationsgrad. Aber ich gebe zu, das ist harte Arbeit, die uns als Verdi an Grenzen bringt. Aber wir werden nicht aufgeben, wir können nur nicht alles gleichzeitig entwickeln.

Wo liegen die Herausforderungen der Zukunft hier in Essen?

Verdi wird daran arbeiten, besser für die Mitglieder erreichbar zu sein und sich schneller um deren Anliegen zu kümmern. Das ist Teil der anstehenden Neuorganisation.

„Besser Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren“

Die Essener Politik arbeitet an einem Konzept für einen neuen, öffentlich geförderten Arbeitsmarkt. Dieser soll Flüchtlingen Arbeit geben, aber auch Langzeitarbeitslosen. Wie steht Verdi dazu?

Wir brauchen einen solchen Arbeitsmarkt, weil in Essen immer mehr Helfertätigkeiten wegfallen und es zur Ehrlichkeit dazu gehört, dass nicht alle Arbeitslosen eine Chance auf eine reguläre Beschäftigung haben. Es ist daher besser, Arbeit zu finanzieren statt Arbeitslosigkeit. Hinzu kommt, dass für viele Dinge in der Stadt kein Geld da ist, und die deshalb liegen bleiben. Da hielte ich es für vernünftig, diese über einen solchen Arbeitsmarkt anzugehen. Wichtig aber ist: Wenn ein solches Konzept umgesetzt werden soll, dann kommt es auf die Bedingungen an. Und da wollen wir als Gewerkschaft auch gehört werden, wenn es um Fragen geht, wie sich das auf vorhandene Arbeitsplätze auswirkt.

Was nehmen Sie sich für Ihre doch recht kurze Zeit bei der EVV vor?

In den 20 Monaten, die mir bei der EVV bleiben, geht es darum, effektive Strukturen aufzubauen und gleichzeitig den Beschäftigten in den Gesellschaften die Sicherheit zu geben, dass ihre Arbeitsplätze nicht bedroht sind. Das ist auch das, was der Oberbürgermeister von mir erwartet.

Dennoch ist es ein Seitenwechsel. Ist das nicht ein Problem?

Ich tausche die Rollen, aber ich werde deshalb ja nicht meine bisherige berufliche Laufbahn vergessen.

Janet Lindgens