Essen. . Der SPD-Vorsitzende und NRW-Justizminister Thomas Kutschaty spricht im Interview auch über Guido Reil und Petra Hinz.

Thomas Kutschaty, Vorsitzender der Essener SPD und nordrhein-westfälischer Justizminister, spricht im Interview über Guido Reil und Petra Hinz und auch darüber, was Politiker und Versicherungsvertreter verbindet.

Herr Kutschaty, jeder ist zu irgendwas nutze, und sei’s als schlechtes Beispiel. Sind wir damit schon bei der Essener SPD angelangt?

Also die Essener SPD ist eine Organisation mit 3800 Mitgliedern, da gibt’s ganz viele gute Beispiele, vernünftig Politik zu machen.

Aber in den vergangenen Monaten haben sich die Skandale und Skandälchen, die Affären und Vorfälle mit Geschmäckle extrem gehäuft. Es gab den „Königsmord“, Sinnkrise und Selbstzerfleischung. Wenn Medien bundesweit die missliche Lage der Sozen beschreiben wollen, dann kommen sie in diese Stadt.

Ich will ja gar nicht leugnen, dass wir in den letzten Monaten durchaus das eine oder andere Problem zu lösen hatten...

... sehr vorsichtig formuliert...

... aber wer sich die Fälle genau anschaut, sieht, dass die alle sehr unterschiedlich lagen. Die Kür des OB-Kandidaten und seines Wahlkampfes, ein Ratsherr, der zur AfD wechselt, dazu einer, der einerseits gegen Flüchtlingsheime im eigenen Stadtteil demonstriert und in einem anderen selbst eine Unterkunft an die Stadt vermietet. Und dann eine Bundestagsabgeordnete mit geschöntem Lebenslauf. Man erkennt doch recht deutlich, dass das nicht miteinander im Zusammenhang steht. Gleichwohl ärgert mich natürlich ungemein, dass das alles bei uns passiert ist. Aber daraus gleich eine Krise der SPD, ja, sogar im ganzen Ruhrgebiet zu stricken, wie das einige getan haben, das halte ich für völlig überzogen. Das wird uns nicht gerecht.

„Das sind Einzelfälle, miteinander nicht vergleichbar“

Könnte ja sein, dass auch Sie sich auf die Suche nach einem Muster, einer Gesetzmäßigkeit gemacht haben. Dass Sie der Frage nachgehen wollten, ob manches irgendwie Essen-hausgemacht ist.

Nein, ich bin mir sicher, das ist nichts „Typisches“ für die hiesige SPD. Das sind Einzelfälle, miteinander nicht vergleichbar.

Welcher dieser „Einzelfälle“ ging Ihnen persönlich am nächsten?

Man denkt über alle nach, weil man die handelnden Personen kennt, teilweise schon seit vielen Jahren. Besonders beschäftigt hat mich der Fall von Petra Hinz, weil es da auch eine menschliche Dimension gibt, die einen sehr nachdenklich macht.

Und Sie bleiben dabei, Sie haben von der Lebenslauflüge nichts gewusst?

Das ist so. Ich habe mich vorher nicht für den näheren beruflichen Weg von Petra Hinz interessiert.

Fragt man sich da nicht unwillkürlich: Wie nah sind einem eigentlich jene Genossen, mit denen man Sitzung um Sitzung zusammenhockt?

Das meinte ich mit der menschlichen Seite des Falls. Dass wir als Berufspolitiker – sie in Berlin, ich in Düsseldorf – keine Zeit dafür aufbringen, uns auch mal über was Privates zu unterhalten. Da ist sehr viel geschäftlicher Umgang.

„Die Frage lautet: Was ist bei Guido Reil passiert?“

Willi Nowack, einst Fraktionschef und großer Zampano der hiesigen SPD, behauptet was anderes: Das haben doch alle gewusst!

Das wundert mich sehr. Er hat doch erst vor einem Jahr ein großes Enthüllungsbuch auf den Markt gebracht. Wenn er das alles wusste, hätte er es doch schreiben können. Das hätte die Auflage bestimmt deutlich erhöht.

Dass große Teile der Öffentlichkeit einem begnadeten politischen Strippenzieher mit Knasterfahrung in dieser Sache mehr glauben, als dem amtierenden Justizminister des Landes – was sagt einem das eigentlich über den Ruf von Politik?

Ach, ich weiß nicht, ob das tatsächlich so ist. Man müsste jene Medien fragen, die diesen Eindruck vermitteln. Vielleicht, weil sie sonst keine schöne Geschichte haben. Die Leser wollen doch was geboten kriegen.

Dafür sorgte Petra Hinz fast einen Sommer lang. Haben Sie noch Kontakt zu ihr?

Nein.

Hätten Sie den gern?

Ich habe Petra Hinz in der Schlussphase persönlich, aber auch per E-Mail mitgeteilt, dass ich immer zum Gespräch für sie zur Verfügung stehe. Das Angebot steht nach wie vor. Aber ich glaube, sie hat die richtige Entscheidung getroffen, einen klaren Schnitt zu machen. Nicht nur, indem sie ihr Mandat zur Verfügung stellte, sondern indem sie auch aus der SPD austrat. Es ist für sie wahrscheinlich besser, Abstand vom politischen Geschäft zu bekommen.

Ein anderer Sozialdemokrat hat auch einen klaren Schnitt gemacht: Guido Reil ist jetzt für die AfD unterwegs und demnächst wahrscheinlich Ihr Gegenkandidat im Norden der Stadt. Schlottern Ihnen schon die Knie?

Nein, das nicht, weil ich Guido Reil schon seit einigen Jahren kenne. Jeder Kandidat, der im Wahlkreis antritt, ist ein Mitbewerber, die nehme ich alle ernst, insbesondere von anderen größeren Parteien.

Vor ein paar Monaten hätte er an Ihrer Seite Wahlkampf gemacht. Was ist passiert in der SPD?

Ich glaube, die Frage müsste lauten: Was ist bei Guido Reil passiert? Am 7. Mai diesen Jahres wollte er noch stellvertretender Parteivorsitzender werden. Keine drei Wochen später entschließt er sich dazu, die SPD zu verlassen und Mitglied der AfD zu werden. Ich glaube, bei seinen Grundwerten ist einiges ins Rutschen gekommen. Wenn er meint, er müsste sich neue Freunde suchen, und er findet die bei der AfD, dann soll er das da versuchen.

„Wir haben noch den Anspruch, Kümmerer vor Ort zu sein“ 

Täuscht der Eindruck, dass er auch im Kreis sozialdemokratischer Sympathisanten viele Freunde findet? Das wäre ja mal ein Grund für die SPD zu überlegen, ob sie in der Frage der Asyl- und Integrationspolitik wirklich alles richtig gemacht hat.

Wir müssen natürlich ständig unser eigenes Handeln hinterfragen. Die AfD reitet auf einer Popularitätswelle, wie lange noch, ist ungewiss. Wir haben immer den Anspruch gehabt und haben ihn noch, die Partei der Kümmerer vor Ort zu sein. Das müssen wir wohl verstärkt deutlich machen. Ganz sicher löst man die Probleme nicht, indem man billige Parolen von sich gibt...

...oder sie ignoriert. Das ist jedenfalls der Eindruck, den Reil von der SPD vermittelt.

Aber genau das haben wir nicht getan. Die SPD war es doch, die dafür gesorgt hat, die ursprüngliche Vorlage des Oberbürgermeisters zur Verteilung neuer Unterkünfte nicht unverändert zu verabschieden. Weil sie sozialen Sprengstoff enthielt.

„Ohne das Land keine schwarze Null für Herrn Klieve“

Und doch hat Reil ein SPD-Ventil geöffnet. Es bricht sich Bahn, was krampfhaft zurückgehalten wurde.

Ich glaube, dass in Teilen der Bevölkerung Sorge vor dem eigenen Abstieg besteht. Und dass versucht wird, dafür einfache Erklärungen und in Flüchtlingen die Schuldigen dafür zu finden.

Wächst nicht auch der Abstand zwischen denen, die Politik machen und denen, für die Politik gemacht wird?

Darüber muss man jeden Tag nachdenken: Wie nah bin ich vor Ort? Klar kann es eine Entfremdung geben, aber wir sind doch sehr bemüht, dass genau das nicht passiert.

Rettet der Umstand, dass die Flüchtlingswelle deutlich abgeebbt ist, die Politik bei den nächsten Wahlen noch mal vor dem Furor der Bürger?

Entscheidend ist, dass wir eine Antwort auf die Frage finden: Wie kann Integration gelingen? Daran arbeiten wir – mit der Wohnsitzauflage zum Beispiel.

Die Flüchtlingsfrage hat viel überlagert, unter anderem die Frage der Stadtfinanzen. Jetzt ist nach 25 Jahren der Haushalt der Stadt erstmals wieder im Lot. Brauchte es dazu einen CDU-Mann?

Nein, dazu brauchte es eine sozialdemokratisch geführte Landesregierung, weil die Stadt nur durch den Stärkungspakt überhaupt in die Lage versetzt wurde, den Etat so aufzustellen. In acht Jahren bekommt Essen so eine halbe Milliarde Euro. Das ist ein richtig dicker Batzen. Ohne den hätte Herr Klieve seine schwarze Null nicht schreiben können.

„Es stimmt, das Ansehen von Politik hat gelitten“

Man gewinnt nicht den Eindruck, dass der Politik das gedankt wird.

Im Ansehen der beliebtesten Berufe sind wir Politiker eh auf dem Niveau von Versicherungsvertretern...

...definitiv hinter Journalisten...

...obwohl: So groß ist der Abstand nun auch nicht mehr. Aber es stimmt schon, das ist eine Entwicklung, die wir alle mit Sorge betrachten: dass das Ansehen von Politik gelitten hat. Und was mich noch mehr besorgt, ist, dass Politiker jetzt sogar Ziel von Hass und Gewalt werden, dass eine überdrehte Unzufriedenheit in offene Aggression umschlägt. Wenn die SPD in Bocholt ihren Parteitag absagen muss, weil es Morddrohungen gegen den dortigen Parteivorsitzenden gibt, dann erschreckt mich das.

Registrieren Sie auch, dass es immer öfter nicht mehr um die Fakten geht als vielmehr um Stimmungen?

Ich habe schon den Eindruck, dass mancher verleitet ist, nach Stimmungslage Politik zu machen. Ich glaube, das wäre grundlegend falsch. Ich will nicht ausschließen, dass wir uns in gewisser Weise beeinflussen lassen, durch Medienlagen, durch Erwartungshaltungen. Wir sind ja auch gewählt, um bestimmte Erwartungen zu erfüllen. Man braucht aber in bestimmten Bereichen Grundwerte und eine Haltung, die eben nicht abhängig sein darf von Umfragewerten. Wenn ich nur kläre: Wie steht die Bevölkerung zu einem Thema, und mich dann erst positioniere, macht das Politik, so glaube ich, auf Dauer unglaubwürdig.

Und auf der anderen Seite? Bei den Bürgern? Begegnen Ihnen da auch erst Meinungen, die man versucht, mit Fakten zu unterfüttern?

So wie es nicht d e n Politiker gibt, gibt es auch nicht d i e Bevölkerung. Es gibt durchaus Leute, die sich differenziert mit Programmen auseinandersetzen und dann ihre Wahlentscheidung treffen. Das zeigt sich ja auch daran, dass die Zahl der Wechselwähler im Lande stark gestiegen ist.

„In dieser Stadt driftet die Gesellschaft auseinander“

Selbst in Ihren eigenen Reihen ist die wachsende Skepsis gegenüber Berufspolitikern zu spüren. Man muss sich nur an die Debatte um die Abgeordneten-Mitarbeiter erinnern, die mit Mandaten liebäugeln.

Ich bin zwar auch eher skeptisch, wenn wir solche Karrieren: Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal haben. Aber wer bei einem Mandatsträger oder in der Parteizentrale gearbeitet hat, kann einen beruflichen Erfahrungsschatz einbringen. Das muss doch nicht der schlechtere Abgeordnete sein. Ich halte es für falsch, vorab irgendwelche Berufsgruppen für Mandate auszuschließen.

Aber so ein richtiger Arbeiter, der täte den Genossen mal gut?

Ja, die SPD ist die Partei, in der gerade kein Hochschulstudium nötig ist, um ein Mandat zu bekommen.

Aber die Arbeiter sind Ihnen ausgegangen.

Insgesamt hat sich die Landschaft verändert: Wir haben nicht mehr diesen Dreiklang aus Zeche, Gewerkschaft und SPD. Den klassischen Arbeiter wie ihn das Ruhrgebiet über Jahrzehnte kannte, gibt’s heute nicht mehr. Gleichwohl haben wir Menschen, die durchaus schwierige berufliche und private Lagen meistern müssen, wo sie Hilfe brauchen. Und wo Sozialdemokratie die richtigen Antworten bieten kann.

Wenn Sie nicht so viele Altlasten abschütteln müssten.

So viel müssen wir gar nicht abschütteln, weil ja nicht alles schlecht gelaufen ist, was wir in den letzten Jahren gemacht haben.

Nicht alles war schlecht früher, schon klar, aber wo sind die neuen Felder, auf denen sich die Sozialdemokraten beweisen können?

Das Thema soziale Gerechtigkeit bleibt nach wie vor d a s zentrale Thema. In dieser Stadt driftet die Gesellschaft leider weiter auseinander – Arm und Reich, Jung und Alt, Zugewanderte und hier Geborene. Außerdem haben sich auch die Lebensumstände verändert. Ich halte es für einen Skandal, wenn Menschen 40 Stunden in der Woche arbeiten, aber das Einkommen nicht reicht, um die Familie zu ernähren. Wir reden da etwa von Paketzustellern oder auch in der Pflege Tätigen, deren Arbeit leider noch immer nicht die nötige Wertschätzung bekommt. Es geht uns schlichtweg um den Zusammenhalt in unserer Stadt.

Was macht Sie so sicher, dass die Wähler das honorieren?

Ich glaube nicht, dass die Menschen kurzfristigen Populismus belohnen. Sie erwarten von uns zu Recht langfristige Lösungen für ihre Probleme.