Der Philosoph und frühere Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin hält einen Gastvortrag in Essen über "Vernunft und Freiheit". Im WAZ-Gespräch gibt der bekannte Wissenschaftler einen Ausblick

INTERVIEW Wie frei sind wir in unseren Entscheidungen? Im Zeitalter populärer Neurowissenschaften thematisiert Professor Julian Nida-Rümelin, Staatsminister a.D und einer der bekanntesten Philosophen Deutschlands, die Frage nach dem freien Willen. Einen Ausblick auf seinen Gastvortrag am Campus Essen gibt er im Interview mit Jasmin Fischer.

Herr Nida-Rümelin, Sie mögen den Film "Lola rennt" wegen der darin ausgesprochenen Frage "Ist die Welt deterministisch oder nicht?". Wie würden Sie diese Frage denn beantworten?

Nida-Rümelin: Es gibt keine unbedingte Freiheit, wir sind Teil der Natur. Dennoch haben wir gewisse Spielräume persönlicher Freiheit. Übrigens mag ich den Film auch, weil er zeigt, wie unterschiedlich Lebensgeschichten bei minimalen Veränderungen verlaufen können.

Der Titel Ihres Vortrags wird lauten "Vernunft und Freiheit". Was hat das eine mit dem anderen zu tun?

Nida-Rümelin: Die Tatsache, dass wir uns von Gründen leiten lassen können, dass die Abwägung von Gründen bestimmt, was wir tun und was wir glauben. Das macht die Vernunft des Menschen und zugleich seine Freiheit aus.

Neurophysiologen und -psychologen würden der Biologie die Hauptrolle einräumen.

Nida-Rümelin: Sicher. Manche sagen, dass das Abwägen von Gründen bei Handlungsentscheidungen keine Rolle spielt. Aber wenn man sie nach den Belegen fragt, dann wird's argumentativ dünn. Meine These ist, dass erst Gründe für die Erklärung unseres Handelns und unserer Überzeugungen unverzichtbar sind. Ich kritisiere das, was ich als "weltanschaulichen Überschuss" bezeichne, eine Ideologie, die durch die Befunde der empirischen Forschung nicht gedeckt ist.

Heißt das, dass Sie an die Willensfreiheit glauben?

Nida-Rümelin: Ich glaube an eine bedingte menschliche Freiheit. Wir können uns nicht morgen neu erfinden - das sage ich gegen Sartre. Wir sind aber auch keine Maschinen, die je nach Impuls, nach genetischer Ausstattung immer so oder so entscheiden. Es würde mich sehr erschüttern, wenn meine Berufs- oder Partnerwahl schon festgestanden hätte, bevor ich angefangen habe, darüber nachzudenken. Dann wäre es übrigens auch ein Rätsel, warum die Evolution ein derart komplexes Großhirn hervorgebracht hat.

Apropos Vernunft und Freiheit: Wie würden Sie die derzeitige geistige Situation an deutschen Hochschulen beschreiben?

Nida-Rümelin: Wenn es an den europäischen Unis je eine Revolution gegeben hat, dann die der gegenwärtigen Modularisierung und Normierung. Mein Rat an die Wissenschaftspolitik: Verschult die Unis möglichst wenig. Ein Student mit 50 Semesterwochenstunden wird nicht mehr dem geisteswissenschaftlichen Ideal entsprechen und stundenlang in der Bibliothek lesen. Wenn ihm stattdessen die Texte mundgerecht ausgeteilt werden, dann geht es dem geisteswissenschaftlichen Studium an seine Substanz.

Sie sind Professor an der Uni München, schreiben Bücher, reisen und halten Vorträge wie jenen am 14. Juni in Essen, wenn Sie "Scientist in Residence" sind. Wann sehen Sie Ihre Studenten?

Nida-Rümelin: In der Regel an mindestens vier Tagen in der Woche während der Vorlesungszeit.

Was ist oder war anstrengender - Ihr Beruf als Wissenschaftler oder der als Kulturstaatsminister?

Nida-Rümelin: Im Politikbetrieb war ich sehr stark in ein Korsett aus Terminvorgaben eingezwängt. Ich war auf Monate hinaus verplant, hatte kaum Freiheit. Gerade jenen, die Autarkie hoch schätzen, fällt das nicht leicht. Als Wissenschaftler entscheide ich selbst, was mir wichtig ist, welche Termine ich annehme, da ist der Spielraum größer. Andererseits sind die Gestaltungsmöglichkeiten in der Politik größer.Prof. Julian Nida-Rümelin hält als diesjähriger "Scientist in Residence" am 14. Juni ab 18 Uhr im Audimax am Campus Essen eine öffentliche Vorlesung zum Thema Vernunft und Freiheit. Mit anderen Wissenschaftlern leitet er am 15. Juni ab 9 Uhr ein Symposium zum Thema im Glaspavillion. "Scientist in Residence" ermöglicht es der Uni, renommierte Wissenschaftler einzuladen, ihre Kenntnisse einer breiteren Öffentlichkeit weiterzugeben. Nida-Rümelin hat Philosophie, Politik, Physik und Mathematik studiert.