Die "Ärztliche Beratungsstelle gegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern" wird 25 Jahre alt.Etwa 400 Fälle werden jährlich gemeldet. Ein Gespräch mit Kinderarzt Ulrich Kohns, dem Leiter der Einrichtung
INTERVIEWWarum wurde Ihre Beratungsstelle vor 25 Jahren gegründet?
Dr. Ulrich Kohns: Damals war das Thema Sexuelle Gewalt sehr im Gespräch. Gewalt überhaupt gehörte oft zur erzieherischen Einstellung. Der berühmte Klaps auf den Po, der nicht schadet.
Daran glauben aber immer noch viele Eltern, oder?
Kohns: Viele Eltern haben in ihrer Kindheit selbst Gewalt erfahren und glauben nicht, dass sie dauerhaft schädigt.
Schädigt denn ein Klaps dauerhaft?
Kohns: Nein, er muss nicht schädigen. Wenn aber Gewalt grundsätzlich zur Erziehung gehört, dann schädigt das den Menschen dauerhaft. Wir wissen, dass diejenigen, die in ihrer Kindheit viel Gewalt erfahren haben, auch später eher dazu bereit sind, Gewalt einzusetzen.
Wer sein Kind misshandelt, ist also selbst ein Opfer?
Kohns: Eine Schuld von Tätern ist nicht wegzudiskutieren. Täter sind insofern auch Opfer, weil sie in Kindheit und Jugend prägende Erfahrungen gemacht haben, die sie eher zu Tätern werden ließen.
Warum lesen wir in diesen Wochen so viel über tote und misshandelte Babys und Kleinkinder?
Kohns: Es ist eine vernachlässigte Generation herangewachsen, die jetzt Kinder bekommt. Sie ist inkompetent in Fragen der Sorge um die Kinder. Wenn Eltern überfordert sind und Gewalt ausüben, dann wollen sie das zwar nicht. Aber sie wissen nicht, wie sie sonst mit der Belastung umgehen sollen.
Sie haben im Sommer gefordert, eine Meldepflicht von Vorsorgeuntersuchungen einzuführen: Falls eine Familie nicht bei den regulären "U"-Untersuchungen ihrer Kinder erscheint, sollte sie aufgesucht werden.
Kohns: Die meisten Vorsorge-Untersuchungen werden nicht aus Bosheit versäumt. Sondern aus Nachlässigkeit und Unkenntnis. Das Land will diese Meldepflicht einführen, es wird ein Gesetz geben.
Seit Ende '07 werden in zwei Bezirken die Eltern aller Neugeborenen von der Stadt aufgesucht. Ist das richtig?
Kohns: Das ist eine Vergeudung von Ressourcen. Ein Gießkannenprinzip, das den Risikogruppen nicht nutzt.
Die wären?
Kohns: Kinder von Eltern in dauerhafter psychischer, finanzieller und sozialer Belastungssituation. Risikofaktoren sind Arbeitslosigkeit, keine Schulabschlüsse und soziale Isolation. Bei den Kindern sind zum Beispiel chronisch Kranke gefährdet. Oder entwicklungsgestörte und verhaltensauffällige Kinder.
Warum?
Kohns: Wenn Sie ein Kind haben, das sich anders als normale Kinder entwickelt, löst das Stress und Hilflosigkeit durch Überforderung aus. Besonders geistig behinderte Kinder sind hochgradig dem Risiko des sexuellen Missbrauchs ausgesetzt.
Interview:
Martin Spletter Die Ärztliche Beratungsstelle gegen Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern e.V. sitzt im "Haus der Begegnung" am Weberplatz 1, Tel: 23 66 11. Jeder kann sich dort anonym beraten lassen, ohne seine Personalien zu hinterlassen. Sie wird vom Land NRW und dem Kinderschutzbund unterstützt und ist auf Spenden angewiesen. Eine Frankfurter Stiftung hat zugesagt, in diesem Jahr jede private Spende um den gleichen Betrag aufzustocken. Deshalb sind im Jahr 2008 Spenden an die Einrichtung besonders effektiv. Konto: Ärztliche Beratungsstelle, Nationalbank, Konto-Nr. 131 172, BLZ 360 200 30.