Historiker in Essen erkunden die jüngere Industrie- und Bunker-Geschichte der Stadt - mit den Methoden der Archäologie. Dabei kommen Dinge zu Tage, die auch heute noch bewegen, emotional und politisch
WAZ-SERIE (6) GRENZERFAHRUNGEN: ARCHÄOLOGIE ÜBERSCHREITET GRENZENDie Kölner haben es gut. Die Kanäle der alten Römer sind eine Touristen-Attraktion, vom Dom erst gar nicht zu reden. Regensburg kann mit seiner mittelalterlichen Stadtanlage glänzen, Städte wie Hamburg, Bremen oder Lübeck mit der Hanse-Vergangenheit. Und Essen? Hat das Weltkulturerbe Zollverein, klar. Aber: das ist einigen Auswärtigen nicht alt genug. Hilfe könnte von unerwarteter Seite kommen - durch ein neues Selbstverständnis der Archäologie, die seit einiger Zeit begonnen hat, neue Grenzen für ihre Arbeit zu definieren.
Stadtarchäologe Dr. Detlef Hopp erzählt von Umwälzungen. Es sei nicht immer mehr der Pinsel, mit dem Archäologie vom Staub der Jahrhunderte befreit werde, sondern häufiger der Bagger. Mit dem Wandel der Arbeitsgeräte sei ein Wandel im Denken verbunden: Nicht mehr Antike und Mittelalter allein stehen im Fokus der Aufmerksamkeit, sondern auch das, was erst vor Jahrzehnten die Menschen bewegte. Bunker- und Industrie-Archäologie sind Schlagworte für eine Entwicklung, die Essen und das gesamte Ruhrgebiet künftig für nach greifbarer Archäologie lechzende Touris in den Mittelpunkt des Interesses bringen könnte.
Der Stadtarchäologe mit Sitz am Kennedyplatz zieht einen Band aus seinem Bücherregal. "Archäologie des Rheinlands 2005" steht auf dem Einband und mittendrin findet sich das, was vor wenigen Jahren noch allgegenwärtig war: Wissenswertes über die Stahlindustrie, in diesem Fall über die Stahlerzeugung bei Krupp um das Jahr 1870 - bisher ein Fall für Historiker, nicht aber für die Männer, die die Spuren dieser Zeit ausgraben könnten.
Zu Unrecht, findet Detlef Hopp. "Man erfährt zwar vieles über Archiv-Unterlagen, aber das ist oft nicht präzise genug. Teils sind Unterlagen unvollständig, teils nie exakt geführt worden, auch weil es Angst vor Industrie-Spionage gab. Die Archäologie will diese Details wissen und dafür sind Ausgrabungen notwendig."
Die Baustelle an der Altendorfer Straße in der Weststadt, wo inzwischen auch das neue Finanzamt entstanden ist, ist für das Team um Hopp seit 2001 im Wortsinn eine Fundgrube. Im Jahr 1819 hatte Peter Friedrich Krupp dorthin seine Stahlfabrik verlegt, 1870 wurde unter dem Zeichen des deutsch-französischen Krieges im "Probirhaus" an Verbesserungsmethoden des Martinstahls experimentiert.
"Wir können anhand der Fundament-Reste der Öfen nachvollziehen, dass sie mit verschiedenen Ziegeln experimentiert haben", erzählt Hopp. Anhand der Ziegel-Verfärbungen lasse sich nachvollziehen, wie experimentiert wurde. Das könne eine historische Betrachtung häufig nicht leisten. "Es ist schon komisch, dass wir gelegentlich mehr über die Antike wissen, als über die Anfänge unserer technischen Entwicklung."
Das bleibt nicht immer konfliktfrei: Zwar können Archäologen nur der Sache wegen forschen, wenn ihre Ausgrabungen sich mit Jahrhunderten zurückliegenden Ereignissen beschäftigen, doch wenn die Jetzt-Zeit nahe rückt, kommen Emotionen und Politik ins Spiel. "Es war schon erstaunlich, wie emotional Menschen reagiert haben, als wir Erdschichten und Bunker aus dem 2. Weltkrieg untersucht haben. Ein älterer Mann beispielsweise hat unter den Funden in einer unserer Ausstellungen sein Spielzeugpferd aus Kindertagen wiederentdeckt", erinnert sich Hopp.
Wenn zusätzlich eine Aufschrift "Für russische Arbeiter" auftaucht, ist die politische Dimension tangiert. "Bisher ging man meist davon aus, dass es für kriegsgefangene Zwangsarbeiter in Nazi-Deutschland keine Bunkerplätze gab."
Dennoch wollen die Archäologen auch weiter die Grenze zur Archäologie der Neuzeit überschreiten: "Schon bald werden die letzten Zeitzeugen aus der Kriegszeit verstorben sein und auch die Schwerindustrie verschwindet angesichts des Strukturwandels aus dem öffentlichen Bewusstsein. Das ist ein Feld für uns und das Ruhrmuseum", sagt Hopp. Wenn dabei - wie demnächst der erste Hochofen der Region in Oberhausen - die eine oder andere Fundstelle für die Öffentlichkeit aufbereitet wird, umso besser.