Essen. Menschen mit klassischer Arbeiterbiografie, früher Stammwähler der SPD, fühlen sich zunehmend von der AfD verstanden – in Essen auch von Guido Reil. Hat die SPD ein Gegenrezept?
Von den heruntergekommenen Bergbau-Gegenden und Stahlwerk-Städten in West Virginia oder Ohio lässt sich nur bedingt auf das Ruhrgebiet schließen. So dreckig geht es dem Essener Norden und anderen Teilen der Emscherregion bei weitem nicht. Dennoch gibt es eine Erkenntnis, die von den bisherigen AfD-Wahlergebnissen, aber eben auch durch Donald Trumps Erfolg gestützt wird: Menschen mit klassischer Arbeiterbiografie, die früher der SPD treu ergeben waren, fühlen sich zunehmend mehr von Politikern verstanden, die sich im rechten Spektrum bewegen. Das gilt vor allem dann, wenn sie sich beruflich abgehängt und ihre Lebenswelt als entwertet empfinden. Finanzielle Sorgen kommen dann bei manchen noch oben drauf.
Droht also hier der SPD bei den Wahlen im Jahr 2017 ein Desaster, tritt die AfD hier teilweise in ihre Fußstapfen?
Guido Reil ist sicher, dass es so kommen wird, mag auch bei ihm viel Wunschdenken im Spiel sein. Der frühere Sozialdemokrat und heutige AfD-Mann aus Karnap sagt, er sei selber oft geradezu erschüttert über das Maß an Zustimmung, das ihm entgegenschlage und das er manchmal als allzu hohen Erwartungsdruck empfinde.
Die SPD versucht Reil zu ignorieren, was wenig zu bringen scheint
Seine alte Partei versucht den 47-jährigen Bergmann so gut es geht zu ignorieren, was nicht immer funktioniert. Zu oft wird Reil medial herumgereicht, tritt als Vorzeige-AfD’ler in Talkshows auf, und auch renommierte Zeitungen porträtieren ihn. „Die Zeit“ widmete ihm erst jüngst eine ganze Seite, der Grundton des Artikels war nicht unbedingt wohlwollend, aber auch nicht vernichtend. Eher neugierig.
Keinem Essener Politiker – von Petra Hinz einmal abgesehen – wurde jedenfalls in diesem Jahr soviel Aufmerksamkeit zuteil. Guido Reil gibt der AfD in Essen ein Gesicht, was die Partei als Glücksfall empfindet. Für die SPD ist es ein Problem. Im Mai wird ein neuer Landtag gewählt. Und einiges spricht dafür, dass seine neuen Freunde ihn zum Direktkandidaten im Essener Norden machen, wo Reil verwurzelt ist.
Dass er von sich behauptet, er sei immer noch ein „Sozi“, wenn auch ein konservativer, tut der SPD weh. Reil spricht die Sprache eines Milieus, zu dem die SPD der Lehrer, Sozialwissenschaftler und Verwaltungsangestellten nur noch schlecht oder gar nicht mehr Zugang hat. Und sollte die AfD die im Norden zahlreichen Nichtwähler mobilisieren – wie es ihr woanders gelang –, ginge auch dies wohl zu Lasten der SPD.
SPD-Chef Kutschaty sieht wie früher die CDU als politischen Hauptgegner
„Hier im Essener Norden ist die AfD der politische Gegner Nummer 1“, gibt Karlheinz Endruschat zu. Der Ratsherr aus Altenessen und Vize der Essener SPD, ein Mann mit Bodenhaftung, traut Reil zu, reichlich Stimmen einzusammeln, zumindest in Karnap.
Hat die Partei eine Strategie gegen das, was ihr da dräut? Reil sei ein Mitbewerber von vielen, mehr nicht, sagt Thomas Kutschaty, der Vorsitzende der Essener SPD, der im Mai selbst im Norden antritt, möglicherweise direkt gegen Reil. „Unser Gegner ist vor allem die CDU.“ Das klingt wie: Gehen Sie weiter, es gibt nichts zu sehen.
Kutschaty hat seit seinem Amtsantritt viel damit zu tun, die Feuer in seiner Partei auszutreten. Reil hat eines davon entzündet, als er im Januar 2016 in einem Interview mit dieser Zeitung offen bezweifelte, dass die Integration Tausender Flüchtlinge im Essener Norden gelingt. Mehr noch: Reil stellte die Integration der teils seit Jahrzehnten dort lebenden Migranten infrage.
Reil erfährt durchaus vereinzelt weiterhin Zustimmung in der SPD
Seine Partei traf er damit ins Mark. Lautet deren Motto mit Johannes Rau gesprochen doch „versöhnen statt spalten“. Allerdings gibt es auch eine ältere sozialdemokratische Weisheit, die Franz Müntefering gern mit Verweis auf Ferdinand Lasalle zitiert und die Reil für sich in Anspruch nimmt: Alle Politik beginne damit „auszusprechen, was ist.“ Und stimme es vielleicht nicht, dass es gerade im Norden Integrationsprobleme gebe, dass viele die Angst plagt, sich dort irgendwann nicht mehr zuhause zu fühlen wegen der Fremden? „Und werden solche Themen nicht schon lange tabuisiert?“, fragt Reil.
Seine oft pauschal vorgetragene Kritik machte es der Mehrzahl seiner Parteifreunde leicht, die Debatte für beendet zu erklären, die er lostrat. Aber es gibt durchaus Genossen, die sie fortsetzen. Viele verdruckst und eher indirekt, Frank Mußhoff hingegen äußert sich ganz offen.
Der Bezirksbürgermeister im Stadtbezirk I vertritt im Netzwerk Facebook ganz ähnliche Thesen wie Reil, nur rhetorisch etwas geschliffener. „Die Frage ist doch, was verstehen wir unter Integration? Mehr als Sprache und Beruf? Oder geht es auch um kulturelle Integration? Dann wird es eng“, meint Mußhoff. Vor allem Menschen aus dem arabischen Raum, die ganz anders sozialisiert sind, seien auch seiner Überzeugung nach schwer zu integrieren. „Da hat Guido Reil durchaus das Richtige gesagt.“
Wir beschäftigen uns nur mit uns selbst, klagt ein SPD-Ratsherr
Seiner Partei empfiehlt Mußhoff, im Umgang mit der AfD weniger zu moralisieren. Stattdessen gelte es auch für Sozialdemokraten, „klar zu sagen, wo es hakt“. Andernfalls sei der oft bemühte Satz, die SPD nehme die Sorgen der Bürger ernst, nur eine Floskel.
In der SPD werde sowas nicht gern gehört, weiß Frank Mußhoff. Warum? Die Populisten könnten es sich leicht machten, indem sie einfach nur Stimmungen bedienten. Für die SPD komme es aber darauf an, den Wählern gangbare Wege und echte Lösungen anzubieten. Aktuell macht die Partei allerdings nicht den Eindruck, als arbeite sie wirklich daran. „Wir beschäftigen uns nur mit uns selbst und mit Themen, die für Bürger gar nicht interessant sind“, sagt Karlheinz Endruschat. Wahlen lassen sich so kaum gewinnen.