Essen. . Seit Jahren kämpft die Stadt Essen gegen ihre Trinker-Szene. Doch weder Strafen noch Freibier zeigten bisher Wirkung. Eine Bestandsaufnahme.

Wer als Reisender nach Essen kommt und in Richtung City schlendert, trifft mitunter auf eine bizarre Szenerie: Ein Dutzend Zecher mit Bierflaschen belagert den Willy-Brandt-Platz, streng beäugt von zwei Ordnungsbeamten. Es ist der Alptraum eines jeden Stadt-Werbers und die jüngste Entwicklung im jahrelangen Kampf gegen eine ortsverbundene Trinker-Szene. Man hat es mit Strafen, Sozialarbeit und mit klassischer Musik versucht, hat über ein Alkoholverbot nachgedacht, aber auch Freibier ausgeschenkt. Und noch nach dem x-ten Rückschlag sagt Ordnungsdezernent Christian Kromberg: „Wir drücken kein Auge zu.“

Eine trinkfreudige Truppe mit viel Tagesfreizeit

Der Willy-Brandt-Platz gegenüber dem Hauptbahnhof ist das Entrée zur selbst ernannten Einkaufsstadt Essen. Just hier, am traditionsreichen Hotel Handelshof, hat sich die trinkfreudige Truppe mit viel Tagesfreizeit eingerichtet. Zwar ließ die Stadt die im Jahr 2010 aufgestellten Bänke wieder abmontieren, doch seither sitzen die Trinker am U-Bahn-Aufgang. Einen ungenutzten Treppenschacht nutzten sie als Freiluft-Klo, so dass dort oft beißender Gestank aufstieg. „Eine Katastrophe“, stöhnen Geschäftsleute und heuerten zeitweilig einen Sicherheitsdienst an. Gegen Bettelei, Trinkgelage und Uringeruch hatte der kaum eine Handhabe.

Erste Bilanz "Pick Up"

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    Vor zwei Jahren dann versuchte es die Essener Suchthilfe mit einem sozialarbeiterischen Ansatz. Die Szene-Mitglieder hätten meist lange Drogen- und Gefängniskarrieren; Job und Perspektive fehlten ihnen, und Sanktionen machten kaum noch Eindruck. Nun bot man ihnen Besen und orangefarbene Kluft, schickte sie los, um den Willy-Brandt-Platz und das Umfeld zu reinigen. Begleitet von einem Anleiter, für eine Handvoll Euro, Mittagessen – und ein paar Bier.

    Das bundesweite Medienecho tendierte zwischen Skepsis und Spott, als „Alkohol für Alkis“ oder „Putzen für Bier“ machte das Projekt Schlagzeilen. Ob es als Erfolg gelten kann, hängt bis heute stark von den Erwartungen ab. Die Suchthilfe zog nach einem Jahr eine positive Bilanz und setzte das Projekt fort: Es verhelfe denen, die dabei bleiben, zu Tagesstruktur und Anerkennung; einzelne habe es gar zum Entzug ermutigt. Und: Das Bier wurde kaum angerührt.

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    Von Frank Stenglein und Thorsten Schabelon

    Am Willy-Brandt-Platz kreisten die Flaschen jedoch weiter. Und so brachte der damalige Oberbürgermeister Reinhard Paß (SPD) im vergangenen Jahr ein Alkoholverbot ins Spiel – das prompt am Widerstand der eigenen Partei scheiterte. Man habe endlich auf einen mutigen Schritt gehofft und sei enttäuscht, ließ der Einzelhandelsverband wissen. Dabei mangelt es in der Essener City weder an Mut noch an Experimentierfreude. Um lärmende Jugendliche zu vertreiben, hatte etwa der Handelshof-Hotelier seinen Vorplatz schon mal mit Klassik beschallt. Gut 3000 Euro investierte er in Lautsprecher.

    Die Szene findet das neue Urinal diskriminierend für Frauen

    Das nächste Experiment soll ein Vielfaches gekostet haben: Anfang 2016 richtete die Stadt einen alternativen Treff ein. Noch in Bahnhofsnähe, ausgestattet mit Sitzklötzen und Pissoir. Doch die Trinker reagierten undankbar. Vom jetzigen Standort könne man bei Regen rasch unters Vordach des Bahnhofs fliehen, der Discounter dort verkaufe billig Alkohol und überhaupt: Am neuen Treff gebe es ja nicht mal ein WC für die Frauen.

    Die Stadt schlug zurück und machte das Freiluft-Klo am Willy-Brandt-Platz dicht. Man fahre nun eine Null-Toleranz-Strategie, sagt Ordnungsdezernent Kromberg. Bloß: Sitzen, Reden, Trinken müssen Polizei und Ordnungsamt tolerieren; sie können erst eingreifen, wenn sie Urinieren oder aggressives Betteln beobachten. „Wir wollen doch keinen ärgern“, sagt ein Trinker: „Nur soziale Kontakte pflegen, miteinander quatschen.“

    Quatschen wird straffrei bleiben, doch aktuell denkt man über einen neuen Tatbestand „Lagern“ nach. Bis Januar soll das Ordnungsrecht entsprechend geändert werden. „Wir müssen das gerichtsfest formulieren“, mahnt Kromberg. Rumstehen und Trinken sei noch kein Lagern, gemeint sei ein Einrichten an einem öffentlichen Ort. Den Willy-Brandt-Platz werde die Stadt nun zurückerobern und pünktlich zum Grüne Hauptstadt-Jahr 2017 zum Info-Point für Touristen umwidmen. Die acht Info-Stelen, die die Stadt dieser Tage aufstellt, sind jedoch vor allem ein ordnungsrechtlicher Trick. Durch sie bekommt der Platz „Aufenthaltscharakter“ und die Stadt eine Art verschärftes Hausrecht. Und sollte auch das nicht wirken, plant die Suchthilfe schon den nächsten Treff an einer vielsagenden Adresse: Hoffnungstraße.

    Info: Alkoholverbot als letztes Mittel In Köln wird derzeit lebhaft über ein geplantes Alkoholverbot diskutiert: 100 Meter rund um Kindergärten und Schulen soll kein Alkohol konsumiert werden dürfen. Der Rat stimmt am 17. November darüber ab. Herne hat schon im Sommer ein Alkoholverbot für Plätze, Fußgängerzonen und verkehrsberuhigte Straßen beschlossen.