Essen. . Nach unterlassener Hilfeleistung in Borbeck: Psychologin vermutet „große Unsicherheit“. Feuerwehr wirbt dafür, schon Kindern das Helfen beizubringen.

  • Die Essener Verhaltenstherapeutin Meike Liesen diagnostiziert „große Unsicherheit“
  • Feuerwehrsprecher Mike Filzen vermutet „Angst vor Überforderung“
  • Beide Experten werben dafür, schon Kindern in der Schule das Helfen beizubringen

Der Sterbende in der Borbecker Bankfiliale – ein Kriminalfall, der ganz Deutschland erschüttert: Jetzt weiß die Polizei immerhin, wer die vier Bankkunden sind, die dem 82-Jährigen im Foyer der Deutschen Bank nicht geholfen haben. Die Deutsche Bank hat die Daten an die Ermittler übermittelt.

Die Aufklärung einer möglichen Straftat – unterlassene Hilfeleistung nach Paragraph § 323c – ist die eine Seite dieses Falles, die Frage, warum die Bankkunden nicht geholfen haben, die andere – und komplexere. „Ich gehe nicht von Desinteresse aus, sondern von großer Unsicherheit“, diagnostiziert die Essener Diplom-Psychologin und Verhaltenstherapeutin Meike Liesen (41). An sich sei der Mensch hilfsbereit. „Denn jeder wünscht sich, dass ihm im Notfall geholfen wird. Deshalb ist er auch bereit, selber zu helfen“, fügt Meike Liesen hinzu. Das Stadt-Land-Schema erkläre den Vorfall nicht. Liesen: „Sicherlich kennt jeder auf dem Dorf jeden, dann ist Hilfe viel persönlicher, aber Stadtmenschen sind deshalb nicht weniger hilfsbereit.“

Feuerwehrsprecher Mike Filzen ist ein Feuerwehrmann, der den Beruf von der Pike auf erlernt hat und schwierigste Krisensituationen kennengelernt hat. Den aktuellen Fall sieht er nicht als Beweis für die These, dass die Gesellschaft, zumal die großstädtische, verrohter und kaltherziger geworden ist. „Ursachen für unterlassene Hilfeleistung sind sehr oft die Angst, etwas falsch zu machen, oder die Angst vor Überforderung.“ So mancher komme nicht damit klar, wenn er bei einem Hilfsbedürftigen den Puls fühlen oder eine Herz-Lungen-Wiederbelebung durchzuführen habe.

Die Diplom-Psychologin führt noch eine andere Erklärung an. „Es gibt die Angst, sich zu blamieren, weil man den Feuerwehr-Notruf möglicherweise vielleicht für eine Lappalie angerufen hat“, mutmaßt die niedergelassene Psychotherapeutin aus Stadtwald.

Mike Filzen rät dazu, hilf- oder gar leblose Personen anzusprechen und zu prüfen, ob sie reagieren. Das gelte auch für Menschen, die volltrunken in der Innenstadt auf dem Pflaster lägen. Erst recht bei Minusgraden im Winter bestehe akute Lebensgefahr.

Empathie und Einfühlungsvermögen seien keine angeborenen Fähigkeiten, sondern genauso erlernbar wie Zivilcourage. „Man sollte es Kindern schon in der Schule beibringen“, fordert die Psychologin und funkt damit auf derselben Welle wie der Berufslebenretter. „Kinder und Jugendlichen Hilfsbereitschaft beibringen gehört auf den Stundenplan, dazu gehört auch bereits eine fundierte Erste-Hilfe-Ausbildung.“

Nähere Angaben zu den vier ermittelten Bankkunden macht Polizeisprecher Christoph Wickhorst nicht. Bis Montag hatte sich bei der Polizei keiner der vier Kunden gemeldet.