Essen. Der Prozess um einen tödlichen Streit in einer libanesischen Großfamilie hat in Essen begonnen. Vierfacher Vater soll auf 21-Jährigen geschossen haben.
- Im April eskalierte der Streit in einer libanesischen Großfamilie auf offener Straße, zwei Monate nach der Schießerei starb das Opfer
- Nun muss sich ein vierfacher Familienvater in Essen vor Gericht verantworten
- Staatsanwaltschaft glaubt an eine Art Blutrache, Angeklagte haben sich zum Prozessauftakt noch nicht geäußert
Polizisten sichern das Gerichtsgebäude, die Mutter des Opfers trägt eine goldene Kette mit dem Bild ihres Sohnes. Vor sechs Monaten ist in einer libanesischen Großfamilie die Gewalt eskaliert. Jetzt ist ein junger Mann tot, drei andere stehen vor Gericht. Es geht um Mord.
Die Schüsse fielen am 9. April 2016, um kurz vor Mitternacht. Mitten in der Essener Innenstadt. Zwei trafen das Opfer in den Rücken, einer ging in die Lunge, der vierte in die Leber. Zwei Monate haben die Ärzte um das Leben des 21-Jährigen gekämpft - am Ende vergeblich. Das Motiv? Ein Rätsel.
Die Staatsanwaltschaft glaubt an eine Art Blutrache. Weil nur wenige Stunden zuvor ein Bruder der beiden Hauptangeklagten niedergestochen worden ist. Auch auf offener Straße, auch in der Essener Innenstadt. Die mutmaßlichen Täter: ein entfernter Verwandter des Erschossenen. Über die Hintergründe wird jedoch geschwiegen. Auch Rechtsanwalt Stephan Bester, der die Eltern des Opfers vertritt, ist ratlos: "Ich kann keinen Anlass für diesen Mord erkennen", sagte er am Rande des Prozesses. "Der Getötete war ein völlig unbescholtener Bürger."
Aufkleber mit dem Foto des Opfers
Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die Angeklagten dem 21-Jährigen an einem Bistro aufgelauert haben. Sie versteckten sich hinter einer Häuserecke, warteten, bis der er das Geschäft wieder verließ. Dann fielen die ersten Schüsse. Der 21-Jährige hatte noch versucht, zu fliehen. Doch er war schon zu schwer getroffen. Er brach auf der Straße zusammen, verlor angeblich sofort das Bewusstsein. Doch selbst da soll der 47-jährige Hauptangeklagte erneut abgedrückt haben. In der Anklage heißt es dazu: "Er gab aus kurzer Distanz noch zwei weitere Schüsse auf das hilflos auf dem Rücken liegende Opfer ab."
Als die Mutter des Opfers diese Sätze noch einmal hörte, liefen ihr die Tränen über das Gesicht. Rund 50 enge Angehörige hatten sie und ihren Mann an diesem Tag ins Essener Landgericht begleitet. Die Männer hatten sogar extra Aufkleber machen lassen - mit dem Bild des 21-Jährigen. Bevor sie den Zuschauerbereich betreten durften, mussten sie die Aufkleber allerdings von ihren Hemden entfernen. Keine "Demonstration" im Gerichtssaal, hieß es.
Offenbar schon seit Jahrzehnten verfeindete Familienteile
Die Angeklagten selbst haben sich zum Prozessauftakt noch nicht zu den Vorwürfen geäußert. Einen Eindruck davon, wie tief die Fehde zwischen den offenbar schon seit Jahrzehnten verfeindeten Familienteilen ist, gab es dennoch. Der 47-Jährige erzählte den Richtern, dass er schon dreimal brutal angegriffen worden ist - auch mit Eisenstangen. Warum? Darauf gab es keine Antwort. Nur diese: "Da ist einfach nur der Hass." Ob er an jenem 9. April geschossen hat, wollte er den Richtern noch nicht sagen. Fakt ist allerdings: In seiner Wohnung war später die Pistole gefunden worden - eingerollt in einem Teppich. Und nach seiner Festnahme hatte er diese Sätze gesagt: "Mir tut es leid, was ich gemacht habe. Ich hoffe, der Mann lebt noch. Die Familie bedroht mich schon lange. Aber ich bin unschuldig. Ich war unter Alkohol und Drogen."
Zurzeit ist es angeblich ruhig. Und so soll es auch bleiben. "Der Vater des Opfers will keine Rache", sagte Anwalt Bester auf dem Gerichtsflur. "Er vertraut ganz der deutschen Justiz." (dpa)