Essen. . Neriman Yamans Sohn soll die Bombe gegen den Sikh-Tempel in Essen geschleudert haben. Jetzt berichtet sie, wie sich Yusuf radikalisierte und ihr entglitt.

Es ist ein Verbrechen, das am 16. April auf der Bersonstraße im Essener Nordviertel passiert und der New York Times eine Meldung auf der Titelseite wert ist: der Bomben-Anschlag auf den Sikh-Tempel. Eine heimtückische Tat, bei der drei Gäste einer Hochzeitsgesellschaft verletzt werden – mutmaßlich verübt von zwei erst 16 Jahre alten Salafisten: Mohammed B. aus Bergeborbeck und Yusuf T. aus Gelsenkirchen. Ein halbes Jahr später legt Yusufs Mutter Neriman Yaman auf 256 Buchseiten Rechenschaft ab. „Mein Sohn, der Salafist“ heißt der Band (mvg-Verlag, 19,99 Euro), der heute in den Handel kommt. Es ist der erschütternde Versuch zu ergründen, wie sich Teenager im Namen Allahs radikalisieren und sich aus ihren Kinderzimmern heraus – zwischen Spielkonsole und Smartphone – in unberechenbare Monster verwandeln. Ein Buch, das viele Fragen beantwortet, aber noch mehr aufwirft.

Die Ückendorfer Straße im gleichnamigen Gelsenkirchener Stadtteil: eine alte Zechenkolonie, in der Straßen „Flöz Dickebank“ heißen. Ein Problem-Kiez mit hohem Ausländeranteil. Hier lebt Neriman Yaman – es ist ihr Mädchenname – mit Ehemann Hüseyin und der ältesten Tochter Büsra. Die Dachgeschosswohnung in dem bald 150 Jahre alten, gelb getünchten Zechenhaus ist geräumig, in der Parterrewohnung leben ihre Eltern und im Gründerzeithaus nebenan befindet sich ihr verwaister „Yaman Market 2“. Die Yamans – sie stehen für vier Generationen Einwanderung aus der Türkei.

Die mutmaßlichen Tempelbomber Yusuf T. (li.) und Mohammed B. wurden in Tatortnähe gefilmt. Im Rucksack soll sich die Bombe befunden haben
Die mutmaßlichen Tempelbomber Yusuf T. (li.) und Mohammed B. wurden in Tatortnähe gefilmt. Im Rucksack soll sich die Bombe befunden haben © dpa

Noch bis vor einem Monat war das Zimmer des in der JVA Iserlohn einsitzenden Tempelbombers zugeschlossen. Und im selben beklemmenden Zustand wie am Tag der Tat. „Es war ein Alptraum“, sagt die 37-Jährige, eine gelernte Verkäuferin. Jetzt sitzt sie auf dem nagelneuen Bett und mustert den komplett renovierten Raum. „Ich habe alles weggeschmissen, seine Couch, den Teppich, die Schrankwand.“ Alles, was an die bedrückende Zeit erinnert, in der sich Yusuf hier Pierre-Vogel-Videos und die abstrusen Tiraden von Hasspredigern gegen die Kuffar, die „Ungläubigen“, reinzieht. In der er sich konspirativ mit Komplizen aus seiner Whatsapp-Gruppe – Mohammed B. aus Essen und Tolga I. aus Schermbeck, – trifft. Erst recht erinnert es an jenen verhängnisvollen Samstag, an dem er hier den womöglich bei Amazon bestellten Sprengstoff in seinem Rucksack verstaut haben könnte.

Gläubig, aber nicht streng religiös

Heute dominieren warme Töne den Raum, Teppiche und Gardinen sind aus hellem und dunklen Braun. „In dem neuen Zimmer soll er ein neues Leben anfangen und sich wohlfühlen“, hofft die Mutter. Aufs Sideboard hat sie gerahmte Fotos gestellt, die den 15-jährigen Teenager mit lockigem Haar zeigen. Daneben ein selbst gezeichnetes Babybildnis.

Ihr Großvater fing Anfang der 60er in Gelsenkirchen als Bergmann an, auch ihr Vater schuftete Untertage. Neriman Yamans Leben handelt von der Sehnsucht nach Aufstieg, vom Streben nach Wohlstand und Bildung. Eine fleißige Familie, die sich als gläubig bezeichnet – „aber nicht streng religiös“.

Yusuf und Büsra sind ihr Sonnenschein, doch schon früh legt sich ein Schatten auf das Leben des Jungen: Er leidet unter ADHS, dem Zappelphilipp-Syndrom. Ein aufgeweckter Junge, der zwar gute Noten nach Hause bringt, aber ständig den Unterricht stört. 2013 muss er auf die Lessing-Realschule wechseln. Er beginnt sich für Gangsta-Rap zu interessieren, raucht Shisha.

Dass sich der Junge allmählich zum Salafisten entwickelt, diesen fatalen Wendepunkt bemerken die Eltern viel zu spät. Zunächst beobachten sie seinen Wandel mit einer Mischung aus Naivität und Vertrauen. „Er war 14 und interessierte sich für Pierre Vogel“, erinnert sich die Mutter. „Einmal sind wir sogar mit Yusuf zu einer Pierre-Vogel-Veranstaltung nach Dortmund gefahren und haben Kuchen verteilt.“ Auch die Kleidung ändert sich jetzt. Neuerdings trägt der „Bekehrte“ den Qamis, ein langes Gewand. Er hört den Koran, liest und betet. An Lies-Ständen in Essen und Gelsenkirchen verteilt er mit dem Salafistenprediger Abou Nagie eifrig den Koran. Auch von älteren Brüdern in Duisburg habe er berichtet, darunter der Reisebüro-Inhaber Hasan C.. Ein selbsternannter Imam, der unter dem Verdacht steht, junge Muslime in den Dschihad nach Syrien und in den Irak zu schicken.

Heirat mit Burka-Mädchen Serap

Die Eltern sehen mit Entsetzen, wie sich ihr Junge radikalisiert – und ihnen entgleitet wie ein Ertrinkender. „Ich habe 30 Moscheen in der Umgebung um Hilfe gebeten, aber keiner konnte mir helfen.“ Eines Tages versprüht Yusuf Reizgas an der Lessingschule und „fliegt“. Auch an der neuen Schule, der Gertrud-Bäumer-Realschule, kommt es zum Eklat. Als er einer jüdischen Mitschülerin androht, ihr das Genick zu brechen, fängt er sich einen Schulverweis ein. „Diese zehn Monate haben ihn wohl noch schlimmer gemacht.“

Ein Schock: An Muttertag 2015 erfährt Neriman Yaman, dass Yusuf eine Salafistin geheiratet hat. Die 15-Jährige trägt Burka.
Ein Schock: An Muttertag 2015 erfährt Neriman Yaman, dass Yusuf eine Salafistin geheiratet hat. Die 15-Jährige trägt Burka. © FUNKE Foto Services

Hilfe scheint nun endlich das „Wegweiser“-Projekt, ein Aussteiger-Programm für Salafisten, zu bringen. Doch quasi unter den Augen der Behörden schreitet Yusufs unheilvolle Verstrickung weiter voran. Im Mai 2015 nimmt sie sogar groteske Züge an, als der 15-Jährige die gleichaltrige Salafistin Serap aus Hagen heiratet. Eine Teenie-Ehe, die ein Konvertit in einer Solinger Moschee schließt - und die hierzulande ungültig ist. Neriman Yaman zückt ihr Handy und zeigt Fotos von Yusuf mit der Braut im Burka-Look. „Es passierte an Muttertag, ein grauenhafter Tag.“

Neriman Yaman fühlt sich mitschuldig an der Radikalisierung ihres Sohnes. Sie macht sich Selbstvorwürfe – und leidet unter ihrer Ohnmacht. „Ich habe mit Imamen und Psychologen gesprochen, mit der Polizei und den Wegweisern. Aber niemand konnte etwas tun, niemand konnte helfen.“

Im November 2015 drückt Yusuf nach langer Pause wieder die Schulbank. Doch längst hat er andere Dinge im Kopf: zum Beispiel die selbstgebastelte Bombe. Als Yusuf, Tolga und Mohammed im Ückendorfer Kinderzimmer die Köpfe zusammenstecken, hört die Mutter sie lachen. Sie sieht die Katastrophe kommen und beginnt nun auf eigene Kosten eine private Ausbildung zur Psychologischen Beraterin – „um meinen Jungen aus dem Sumpf herauszubekommen.“ Doch zu spät, um den Anschlag zu verhindern. Als sie am Montag, dem 18. April, zum dritten Ausbildungsabend aufbrechen will, legt Yusuf unter Tränen ein Geständnis ab. „Mama, das haben wir gemacht.“ Tags darauf stellt er sich bei der Polizei in Gelsenkirchen.

Prozess beginnt am 7. Dezember vor der 5. Jugendstrafkammer in Essen

Für die juristische Aufarbeitung des Essener Sikh-Tempelanschlags wird die 5. Jugendstrafkammer des Landgerichts Essen zuständig sein. Der Prozess beginnt am 7. Dezember – unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Drei junge Männer im Alter von 16 und 17 Jahren sind angeklagt: Yusuf T., Tolga I. und Mohammed B.. Zusammen mit anderen jungen Menschen hatten sich die Drei in sozialen Medien und in einer Chatgruppe bei Whatsapp („Unterstützter des Islamischen Kalifats“) zusammengeschlossen. Die Anklage lautet auf versuchten Mord.

Ursprünglich sollte der Prozess schon im Oktober beginnen. Doch weil die Kinder- und Jugendpsychiater nicht genügend Zeit hatten, um die drei Angeklagten zu begutachten, musste der Prozess verschoben werden. Bereits Ende Juli hat das Amtsgericht Münster den 20 Jahre alten Hilmi T. zu 20 Monaten Jugendhaft auf Bewährung und 100 Sozialstunden verurteilt. Hilmi T. gehörte ebenfalls der Gruppe an, die den Sprengstoffanschlag in Essen geplant hat. An der Tat selbst war er aber nicht beteiligt. Seine Festnahme war schon am 27. März nahe Hildesheim erfolgt. Im Gerichtssaal trat Hilmi T. vermummt auf – ähnlich wie ein IS-Terrorist. Das Gericht hielt es für glaubhaft, dass der geständige 20-Jährige die gewaltbereite Salafistenszene verlassen möchte.

Couragierte und verzweifelte Mütter schalten die Polizei ein

Yusuf, Tolga und Hilmi sind drei junge Männer, deren Verwicklung in den Tempelanschlag bemerkenswerte Parallelen aufweist. Es sind ihre Mütter, die in einer Mischung aus Verzweiflung und Vorsicht den Kontakt zu den Strafverfolgungsbehörden gesucht haben. Tolgas Mutter lebt in Schermbeck, ist von Beruf Lehrerin. Ihr war eine Kladde mit handschriftlichen Aufzeichnungen des Sohnes in die Hände gefallen, der darin ankündigte „Ungläubige“ töten zu wollen. Daraufhin schaltete sie die Polizei ein, die dafür sorgte, dass sein Pass eingezogen wurde.

Hilmi T.’s Mutter wandte sich am 25. März an die Polizei in Münster. Sie befürchtete, ihr Sohn werde nach Syrien ausreisen und sich dem so genannten Islamischen Staat anschließen. Das Amtsgericht erließ Haftbefehl. Bei der Festnahme führte Hilmi T. ein verbotenes Springmesser mit sich. Die Auswertung seines Computers und Mobiltelefons hätten Hinweise auf eine radikalislamische Einstellung ergeben, so die Staatsanwaltschaft.