Essen. Der Staatsanwalt hat keine Anklage erhoben, was viele empören wird. Juristisch ist es nachvollziehbar. Und die faktische Strafe war keine Kleinigkeit.
Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, den Fall Petra Hinz ohne Anklageerhebung abzuschließen, wird das Gerechtigkeitsempfinden vieler enttäuschen. Aber sie war nicht anders zu erwarten und ist auch juristisch nachvollziehbar. Das gilt trotz eines beachtlichen Sündenregisters, das die Ex-Sozialdemokratin und Ex-Bundestagsabgeordnete auf sich geladen hat.
30 Jahre lang hat Hinz erst ihre SPD-Parteifreunde, dann die Wähler hinters Licht geführt, als sie sich eine Qualifikation zuschrieb, die niemals existierte. Bürger, denen akademische Weihen in der Politik wichtig sind, mag sie mit der Lüge dazu verleitet haben, ihr bei Bundestagswahlen die Stimme zu geben. Moralisch ist das in hohem Maße schäbig. Das Lügen ist aber in diesem Fall kein Straftatbestand. Und darauf kommt es bei einer Strafverfolgung nun einmal an.
Bundestagsabgeordneter ist aus gutem Grund kein Beruf wie jeder andere. Aus staatsrechtlichen und demokratietheoretischen Gründen dürfen geprüfte Qualifikationen hier keine Voraussetzung sein, denn das würde bedeuten, dass nicht jeder Bürger mandatsfähig wäre. Die prinzipielle Offenheit für alle gehört aber zum Wesenskern einer freien Volksvertretung, deren Abgeordnete „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind“, wie es in Artikel 38 des Grundgesetzes heißt.
In der Parlamentsrealität mag das faktisch eine geringe Rolle spielen, es bleibt aber die Basis für den Bundestag und sein Selbstverständnis. Dazu gehört auch: Wer einmal vom Wähler ein Mandat erhalten hat, muss schon sehr schwere Straftaten begehen, um zum Rückzug gezwungen werden zu können.
Deshalb hatte sich ausgerechnet NRW-Justizminister Thomas Kutschaty auf glattes Eis begeben, als er Petra Hinz in seiner Funktion als Vorsitzender der Essener SPD ein Ultimatum stellte mit dem Ziel des Mandatsverzichts. Was juristisch hochproblematisch war, war politisch und moralisch allerdings zwingend. Das zeigt noch einmal den Spagat, auf den sich alle Beteiligten einlassen mussten.
Für das „normale“ Gerechtigkeitsempfinden mögen all diese Darlegungen wenig befriedigend sein. Bei vielen wird hängenbleiben: Eine Bundestagsabgeordnete darf mich also anlügen, darf versuchen unter Vortäuschung falscher Tatsachen meine Stimme zu ergattern und muss den Staatsanwalt nicht fürchten. Jeder sollte aber bedenken, dass Petra Hinz im nichtjuristischen Sinne keineswegs straffrei blieb.
Die Affäre hatte eine gewaltige mediale Breitenwirkung. Wohin die 54-Jährige auch immer gehen wird, die Schande und der Makel werden ihr vorauseilen. Die gesellschaftliche Ächtung kann weit härter sein, als alles, was ein Richter in einem solchen Fall ausrichten könnte. Petra Hinz schaut auf die Trümmer ihres Lebens. Mehr Strafe für eine Lüge geht eigentlich nicht, und damit sollte es dann auch gut sein.