Haarzopf/Fulerum. .

Beim Blick aus ihrem Fenster schaut Martina Schmidt über die weiten Felder Fulerums, erkennt bei gutem Wetter sogar den Tetraeder am Horizont. Das Zimmer der 55-Jährigen ist gemütlich; stolz präsentiert sie ihre Puppensammlung, mit der sie sich ihr Bett teilt. „Die sind mein Hobby“, sagt die Frau, die vor knapp einem Jahr ins „Haus Haarzopf“ der Essener Lebenshilfe einzog. Schon seit 25 Jahren begleitet der Verein Menschen mit geistiger Behinderung in der Einrichtung an der Humboldstraße 165. Ein Jubiläum, das am 27. August groß gefeiert werden soll, mit Familien, Freunden und Besuchern aus dem ganzen Stadtteil, die das Haus und seine Bewohner kennenlernen möchten.

Martina Schmidt wird dann natürlich mithelfen, vielleicht sogar das ein oder andere Bier zapfen. „Ich habe früher in der Wirtschaft meiner Eltern gearbeitet, in Wattenscheid“, erzählt die aufgeschlossene Rentnerin, die bis zum Umzug nach Haarzopf bei ihrem Vater in Kray gelebt hat. Als der sich aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr um die Tochter kümmern konnte, fand er Unterstützung bei der Lebenshilfe.

„Die demografische Entwicklung betrifft uns natürlich genauso. Wir haben es zuletzt häufiger erlebt, dass ältere Menschen sowohl für sich selbst als auch für ihre Kinder, die sie ein Leben lang betreut haben, einen Betreuungsplatz gesucht haben“, sagt Atilla Benjamin Aktaş, der das Haus in Haarzopf mit 70 Mitarbeitern seit Mai 2014 leitet. In seiner Entscheidung überzeugt habe ihn damals das Konzept der Lebenshilfe, das eine Begegnung auf Augenhöhe ermögliche.

„Unsere Bewohner sind gleichzeitig unsere Arbeitgeber, sie sitzen gemeinsam mit ihren Familien in unseren Beiräten und haben auf diesem Weg immer die Möglichkeit zur Mitbestimmung“, sagt der Sonderpädagoge, der gleichzeitig Heilerziehungspfleger und Betriebswirt ist. Oberstes Ziel sei es, dass sich die 49 Männer und Frauen, die zurzeit in der Einrichtung leben, so heimisch wie möglich fühlen.

Dabei verschweigt Aktaş auch nicht, dass die Wohnform im Inklusions-Zeitalter nicht mehr besonders zeitgemäß ist: „Den Heim-Charakter wird man nie ganz los, daher werden solch große Häuser heute gar nicht mehr gebaut. Auch bei der Lebenshilfe macht man sich viele Gedanken darüber, wie neue Wohnformen aussehen können. In Essen haben wir bereits drei kleinere Wohngruppen, die mitten in den Stadtteilen liegen. Allerdings ist die Betreuungsintensität dort auch nicht so groß wie bei uns.“

Arten und Grade der Behinderungen sind in Haarzopf ebenso bunt gemischt wie die Generationen: von 33 bis 74 Jahren reicht das Alter in den sechs Wohngruppen des Hauses. Gut 80 Prozent der Bewohner gehen in den umliegenden Werkstätten noch einer Beschäftigung nach, etwa in den Werkstätten der Gesellschaft für Soziale Dienste. Aktas: „Für die anderen, unsere Rentnergruppe, bieten wir Freizeitangebote an, die ihren Alltag strukturieren. Die Möglichkeiten stehen aber natürlich allen offen.“

Vom Kunstatelier über einen großen Kräutergarten bis hin zu Musik- und Schwimmkursen und sogar einem Judoteam mit behinderten und nichtbehinderten Menschen reicht die Bandbreite. Zudem organisieren die Bewohner ihren Alltag selbst, steht die Eingangstür für sie immer offen. „Wenn eine Wohngruppe kochen will, kaufen die Bewohner dafür in der Neuen Mitte ein oder machen sich auf den Weg zum Rhein-Ruhr-Zentrum. Das ist ja von hier aus alles super zu Fuß zu erreichen“, sagt Aktaş. Da versteht es sich von selbst, dass auch bei der Vorbereitung des Sommerfestes alle mit anpacken: „Das wird eine ganz besondere Jubiläumsfeier.“