Essen. Harald Martini ist neuer Leiter der Essener Domsingknaben. Um mehr Jungen für Chormusik zu begeistern, organisiert er auch in Grundschulen Vorsingen.
Als Harald Martini 1983 in der Vorschule der Essener Domsingknaben aufgenommen wurde, da gab es noch keine Nachwuchs-Werbung, geschweige denn ein Chor-Casting. Im Hohen Dom zu Essen zu singen, das war eine Auszeichnung und die Nachfrage groß. Sogar in der Sonntagsmesse seiner Krayer Heimatgemeinde wurde festlich verkündet, dass ein junges Gemeindemitglied nun im Dom die Knabenstimme erhebt. „Der Aufnahme-Ritus wird immer noch gefeiert“, lächelt Martini. „Doch inzwischen müssen wir uns mehr um den Nachwuchs bemühen.“
Martini, selber dreifacher Vater und ausgebildeter Bariton mit Konzert-Examen, will die Herausforderung annehmen. Der 1975 im indischen Bombay geborene und in Essen aufgewachsene Musiker tritt damit die Nachfolge von Domkapellmeister Georg Sump an. Ein Amt, das heute ganz andere Anforderungen stellt als zu Martinis Domsingknabenzeit. Internet, G8-Leistungsdruck und Freizeitstress sind nur einige Hürden. Eine rückläufige religiöse Prägung im Elternhaus ist das andere Hindernis. Statt zwei Vorschulen mit 15 und mehr Knaben gab es irgendwann nur noch vier bis sechs Jungen pro Jahrgang. Dabei sind die Domsingknaben auf kontinuierliche Nachwuchsförderung angewiesen, die Zeitspanne zwischen Aufnahme und Stimmbruch ist kurz.
"Kirche neben dem Riesenrad"
Erstmals haben Martini und seine Kollegin, Stimmbildnerin Christine Alexander, deshalb eine Art Casting in zwölf Grundschulen organisiert. Rund 500 Jungen wurden gehört und hoffnungsvolle Talente gefunden. Inzwischen hat sich der Chor wieder bei einer Stärke von 70 Stimmen stabilisiert.
Chorleiter mit Konzertexamen
Harald Martini hat Gesang studiert, an der Essener Folkwang-Universität der Künste und in Graz. 2006 hat er sein Konzertexamen abgelegt.Martini hat mit namhaften Ensembles und Orchestern musiziert. Seit vielen Jahren gehört er zum WDR-Rundfunkchor. Mit der Choralschola der Essener Domsingknaben gestaltet er die Mitternachtsmesse am 8. Juli mit „Gregorianik zur Nacht“.
Wer heute zu den Domsingknaben gehört, ist nicht zwingend katholisch. Es gibt auch protestantische und nicht getaufte Kinder. In vielen Fällen schult Martini deshalb nicht nur die Stimmen, sondern vermittelt auch das religiöse Basiswissen, um die Johannes-Passion oder das Mozart-Requiem singen und verstehen zu können. „Wir haben keine Konfessions-Schranken im Kopf, aber wir sagen den Kindern und Eltern klar, auf was sie sich einlassen“, erklärt der 40-Jährige. Und auch für die Väter und Mütter ist Kirche mit ihren Riten und Abläufen nicht unbedingt etwas Selbstverständliches. „Die Kirche neben dem Riesenrad“, muss Martini manchmal erklären, wenn er Neuzugänge zu Essens zentralem historischen Kern lotst, dem gotischen Dom, der in dieser Woche 700-jähriges Bestehen feiert.
Eine andere Welt eröffnen
Fast so alt wie die frühen gotischen Mauern ist die Tradition der Choralschola. Und dass sich Jungen auch heute noch von den Klängen der Renaissance, des Barock und dem Zauber der eigenen Stimme mitreißen lassen, das begeistert Martini, der in den vergangenen Jahren hauptberuflich beim WDR-Rundfunkchor gesungen hat. Natürlich würden die Jungs nach der Probe ihre Spotify-Songs am Handy abrufen, doch die Schönheit einer Palestrina-Messe sei ihnen ebenfalls nicht fremd. „Die Kinder haben eine Sensibilität für Qualität, die wecken wir.“
Die Freude daran, „den Horizont zu erweitern, eine andere Welt zu zeigen“, die hat ihn überzeugt, dieses besondere Amt anzunehmen. In den nächsten Jahren wird sich zeigen, wie Kirche sich den neuen Herausforderungen stellt. Hausaufgaben- und Übermittag-Betreuung sind Möglichkeiten, auf die geänderten Bedürfnisse zu reagieren. Noch ist nicht entschieden, ob mit einem neuen Konzept auch die Modernisierung der Bischöflichen Kirchenmusikschule an der Klosterstraße einhergeht. Harald Martini kennt die Adresse gut. Er ist hier schon vor über 30 Jahren ein und aus gegangen.