Essen. Vor 75 Jahren verstarb ein berühmter Sohn dieser Stadt: der Sozialpolitiker Heinrich Hirtsiefer. Vom Schlosser brachte er es bis an die Spitze des Staates.
Als Dokument der Zeitgeschichte ist dieses Foto Teil der Dauerausstellung im Haus der Essener Geschichte und es im Haus des Widerstandes in Berlin zu sehen. Denn es führt dem Betrachter vor Augen, wie die Nationalsozialisten nach der Machtergreifung mit politischen Gegnern umgingen, auch mit jenen aus dem bürgerlichen Lager. Am 11. September 1933 drückt der Fotograf auf den Auslöser seiner Kamera. Er hält im Bilde fest, wie NS-Schergen, begleitet von einem Mob Schaulustiger, den Zentrumspolitiker Heinrich Hirtsiefer aus Altendorf durch Essens Straßen vor sich hertreiben. Die öffentliche Demütigung, die der ehemalige preußische Minister für Wohlfahrtspflege, stellvertretende Ministerpräsident und Mitglied des Stadtrates an diesem Tag erfährt, ist nur der Anfang einer Tortur, die er in den noch kommenden Wochen durchleben muss. An den Folgen wird Heinrich Hirtsiefer wenige Jahre später sterben. Am Sonntag, 15. Mai, jährt sich sein Todestag zum 75. Mal.
Zu den wenigen Ausstellungsstücken im Haus der Geschichte über das Leben und Wirken von Heinrich Hirtsiefer gehört auch eine Kordel. Daran befestigt war jenes Schild, dass er an diesem 11. September des Jahres ‘33 tragen muss. „Ich bin der Hungerleider Hirtsiefer“, steht darauf zu lesen. Hirtsiefer ist ein kleiner Mann von korpulenter Statur. Ob er sich als vierfacher Vater tatsächlich bei den offiziellen Stellen darüber beschwert hat, dass ihm nach seiner Absetzung als Minister sämtliche Bezüge gestrichen wurden, wie die Nationalzeitung, das NS-Parteiorgan, tags drauf schreibt, bleibt dahingestellt. Hirtsiefers Tochter Sophie hat die Kordel aufbewahrt wie auch seinen, nach stundenlangem Marsch bei gleißender Hitze, durchschwitzten Kragen, erzählt Maria Hirtsiefer, seine Enkeltochter, die in Essen lebt.
Baldeneysee und Gruga wären ohne Hirtsiefer nicht gebaut worden
Auch in ihrer Dachgeschosswohnung in Frohnhausen hängt ein Bild von Heinrich Hirtsiefer. Es ist ein Ölgemälde, das einst den Sitz des Ruhrsiedlungsverbandes schmückte, dessen Vorstand Hirtsiefer angehörte. Der Spross einer Arbeiterfamilie hatte da bereits einen erstaunlichen beruflichen Werdegang hinter sich. Bei Krupp Schlosser gelernt, schloss Hirtsiefer sich dem katholischen Arbeiterverein und dem christlichen Metallarbeiterverband an, wo sein politisches Talent schnell erkannt wurde.
Hirtsiefer steigt auf zum Bezirksleiter seines Verbandes, 1906 wird er in den Rat der Stadt gewählt, 1921 ins Kabinett des preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun (SPD) berufen. Hirtsiefer, Minister für Wohlfahrtspflege, ist ein Sozialpolitiker par excellence. Hirtsiefer engagiert sich für den Wohnungsbau. Der Baldeneysee und die Gruga wären ohne sein Zutun nicht gebaut worden. Übrigens auch nicht der Nürburgring in der damals wie heute strukturschwachen Eifel. Auch der Bau der Rennstrecke war, was man später Arbeitsbeschaffungsmaßnahme nennen soll. Den Nazis aber gilt er als Repräsentant eines in ihren Augen verhassten wie gescheiterten politischen Systems.
Hirtsiefer wurde im KZ brutal misshandelt
Noch am selben Tag, an dem Hirtsiefer als solcher zur Schau gestellt wird, nimmt ihn die Polizei in „Schutzhaft“. Hirtsiefer wird inhaftiert zunächst im Konzentrationslager Kemna, dann im berüchtigten KZ Börgermoor im Emsland, wo er brutalst misshandelt wird. Jahrzehnte später soll sich die Tochter eines Lageraufsehers bei Hirtsiefers Enkeltochter Maria persönlich entschuldigen. „Ihre Mutter hatte ihr verschwiegen, was ihr Vater während des Krieges getan hatte“, erzählt Maria Hirtsiefer. Die Täter schweigen, die Opfer verdrängen: Auch ihr eigener Vater, Hirtsiefers ältester Sohn Heinrich, habe über das, was war, kaum sprechen können. „Ich vermute, er hat sich geschämt, dass er seinem Vater nicht hat helfen können.“
Dabei verdankte Hirtsiefer es dem persönlichen Einsatz seiner Söhne, dass er aus der KZ-Haft entlassen wird. Sie schreiben an Reichspräsident Hindenburg. Über einen Freund der Familie, wenden sie sich an den Apostolischen Nuntius, den späteren Papst Pius XII – und entgehen wohl nur um Haaresbreite einer Verhaftung wegen Landesverrats. Heinrich Hirtsiefer aber kommt frei, doch seine Heimatstadt darf er nicht mehr betreten. 1941 stirbt Hirtsiefer in Berlin. 1966 erhalten seine Nachkommen von der Bundesrepublik Deutschland eine finanzielle Entschädigung für das Leid, das ihm und seiner Familie zugefügt worden war -- in Höhe von 2645 D-Mark.
Mitgründer einer Siedlung
Die 1945 geborene Maria Hirtsiefer erfährt erst von ihrer Tante Sophie, was für ein Mensch ihr Großvater war: ein Mensch voll Humor und Lebenslust. Einer, der nie vergessen hat, aus welch ärmlichen Verhältnissen er stammte.
In Essen haben sie Heinrich Hirtsiefer nicht vergessen. Die Siedlung in Altendorf, wo er zuhause war, trägt seinen Namen. Heimatforscher aus Heisingen, wo Hirtsiefer in der Elsaßstraße ein Wochenendhaus besaß, bis die Nazis es ihm wegnahmen, wendeten sich bei ihren Recherchen an seiner Enkeltochter. Nur die Stadt Essen, die habe sich in all den Jahren, nicht sehr für den berühmten Sohn der Stadt interessiert. „Bei unserer Familie“, erzählt Maria Hirtsiefer betrübt, hat sich meines Wissens nie jemand gemeldet.“
Im Volksmund wurde sie stets Hirtsiefersiedlung genannt, gerne auch Ministersiedlung. Denn Heinrich Hirtsiefer war einer der Gründerväter der genossenschaftlichen „Kleinhaus Siedlung Essen-West e.G. mbH“, hier war er selbst zuhause. Die Hirtsieferstraße, ehemals Mercatorstraße, trägt seinen Namen. Als christlicher Sozialpolitiker engagierte sich Heinrich Hirtsiefer für das Wohnungswesen, insbesondere für bessere Lebensbedingungen der Arbeiterschaft, die er aus eigener Erfahrung nur zu gut kannte. Hirtsiefer entstammte einer Arbeiterfamilie. Sein Vater war aus wirtschaftlicher Not aus dem Bergischen Land ins Ruhrgebiet gezogen. Heinrich Hirtsiefer wuchs in der Kronenbergsiedlung auf, lernte Schlosser bei Krupp.
Charakter der Arbeitersiedlung durch Denkmalschutz erhalten
Die Hirtsiefersiedlung sollte ein städtebaulicher Gegenentwurf sein zu den beengten Quartieren, in denen Arbeiter damals mehr hausten als wohnten. Eine Siedlung mit viel Grün und Wohnungen, die für damalige Zeiten fast ungeahnten Komfort boten: eine Spülküche, ein Bad und ein eigenes Klosett.
Ihren Charakter hat die von Gartenstadt-Architekt Theodor Suhnel, ein Schüler Georg Metzendorfs, ab 1919 erbaute Siedlung bis heute erhalten. Die Wohnungsgenossenschaft Essen-Nord, 1942 mit der Kleinhaussiedlung vereint, legt großen Wert darauf. Der Denkmalschutz dürfte seinen Teil dazu beigetragen haben. Zu Hirtsiefers Ehren ließ die Genossenschaft 1994 eine Büste am Lichterweg aufstellen. Seit 1962 erinnert am Hedwig-Dransfeld-Platz ein Gedenkstein an die drei Gründerväter Heinrich Hirtsiefer, Christian Kloft und Heinrich Strunk.