Essen. Essener AfD-Chef Stefan Keuter spricht im Interview über kalkulierte Tabubrüche, Pfefferspray als Werbegag und die Flüchtlingskrise als Stimmenbeschaffer.

Herr Keuter, im sozialen Netzwerk Facebook zählen Sie 4999 Freunde, mich haben Sie auch angefragt, vergeblich. Wollen Sie wissen, warum? 

Stefan Keuter: Ich brenne darauf...

Sie gingen nach dem Gabriel-Spruch zu den Krawallen in Heidenau mit dem Foto „Je suis Pack“ hausieren. Jemand, der gut findet, dass brauner Mob Flüchtlinge jagt und auf Polizisten eindrischt, mit dem will ich nicht mal loser Facebook-Freund sein.

Keuter: Wenn man das so darstellt, kann ich Ihnen da folgen. Ich war damit auch nicht ganz einverstanden.

Und warum posten Sie dann sowas?

Keuter: Hin und wieder, wenn ich ein paar Tage weg bin, kümmert sich ein Freund um die Seite...

Und lassen Sie mal raten: Der ist auf der Computermaus ausgerutscht.

Keuter: Nein nein, das war schon absichtlich. Aber eben auch unglücklich, obwohl ich mich damals schon in so einer Opferrolle gesehen habe. Man versucht ja stets, uns in die rechte Ecke zu rücken, zu diffamieren.

Das besorgt die AfD doch selbst. Der Vorwurf des „Rechtsrucks“ kam aus Ihren eigenen Reihen.  

Keuter: Von Leuten, die im internen Streit und bei Wahlen unterlegen waren, ja. Damals ist der mediale Müllkübel über uns ausgeschüttet worden, und wir haben eigentlich das vorweggenommen, was die Bundespolitik später nachvollzogen hat.

Sie meinen Ihre Versuche, das eigene Parteiprofil auf Kosten von Flüchtlingen zu schärfen?

Keuter: So würde ich das nicht formulieren. Wir geben den Menschen, die sich bisher durch die etablierte Politik und die etablierten Parteien nicht vertreten fühlen, eine Stimme. Darauf bin ich stolz.

Aber von Euro und Grexit oder anderem ist zumindest bei der AfD Essen kaum noch die Rede. Es geht fast nur um Flüchtlinge und Zuwanderung.

Keuter: Was mich persönlich treibt, ist die Frage der Bürgerrechte. Ich sehe eine riesige Gefahr durch massenhafte Auswertung von Daten. Mich umtreibt das Freihandelsabkommen TTIP, der Staatshaushalt, die beschämende Altersarmut. Aber wenn Sie schauen, was die Leute interessiert, ist das alles dominierende Thema die Migrationskrise. Die brennt den Bürgern unter den Nägeln, damit kann ich viel leichter Politik machen, als jemandem die Problematik von TTIP näherzubringen.

Bei den Landtagswahlen andernorts hat sich gezeigt: Sie sind im Lager der Nichtwähler erfolgreich...

Keuter: ...was ich toll finde. Die politische Entwicklung spielt uns natürlich in die Karten, da sind wir ehrlich.

Wahlforscher sagen, die AfD könnte auch in Milieus Stimmen gewinnen, die von der SPD enttäuscht sind. Worin unterscheidet sich Ihre Position von der von sozialdemokratischen Kritikern der Flüchtlingspolitik wie etwa Ratsherr Guido Reil?

Keuter: Ich kenne Reil nicht persönlich. Ich finde es aber sehr mutig von ihm, dass er als SPD-Politiker seine Bedenken angesprochen hat, ob die Integration überhaupt zu schaffen ist. Wenn ich sehe, wer in den letzten Jahren herkam, kann ich feststellen, dass es eine Ghettoisierung gibt, dass Parallelgesellschaften entstehen. Da muss man auch die Frage nach der Integrationswilligkeit und der Integrationsfähigkeit stellen.

Aber der erste Schritt ist doch, Hilfesuchenden Schutz zu bieten.

Keuter: Wer tatsächlich verfolgt ist, soll auch jederzeit in Deutschland vorübergehend Zuflucht finden, solange diese Bedrohung besteht. Aber es wird ja gar nicht mehr richtig unterschieden: Wer ist wirklich Flüchtling und wer ist Migrant aus wirtschaftlichen Gründen? Ich sage es ganz offen: Lebte ich in einem Land mit schlechten Zukunftsperspektiven, würde ich persönlich alles daran setzen, mir ein besseres Leben zu verschaffen. Ich hätte aber auch Verständnis, wenn dieses Land mir sagt: Wir haben keine Verwendung für Dich auf unserem Arbeitsmarkt, Du würdest uns finanziell zur Last fallen. Wir möchten Dich nicht haben.

Um die Frage „Wer ist echter Flüchtling?“ zu beantworten, muss man aber das rechtsstaatliche Verfahren erst abwarten.

Keuter: Ich bin ja auch für eine geordnete Zuwanderung. Das Land braucht Migration und ist damit bisher auch hervorragend klargekommen. Meine Mutter hat jahrelang ehrenamtlich in einem Heim für Spätaussiedler gearbeitet, ich habe da oft mitgeholfen, da bestehen Freundschaften bis heute.

Wie wollen Sie das Unbehagen, von dem Ihre Partei derzeit profitiert, am Ende in praktische Politik gießen?

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Keuter: Die Asylkrise ist kein Problem, das Essen allein lösen kann. Die Stadt agiert nicht, sie reagiert. Wer zu uns kommt, sollte anständig behandelt werden. Zelthallen halte ich persönlich für menschenunwürdig. Diesen Menschen sollte man unsere Kultur nahebringen und Kontakte in die Bevölkerung vermitteln. Aber wer ausreisepflichtig ist, wer durch alle Instanzen den Weg beschritten hat, der blockiert Plätze, bindet finanzielle Ressourcen, die wir nutzen könnten.

Das formuliert der Sozialdezernent genauso. Wo sind Ihre Ideen?

Keuter: Sie erwarten von uns große politische Lösungen.

Nein, kleine. Sie stehen zum Asyl, sagen Sie, wollen aber keine Bebauung von Freiflächen. Also frage ich: Wo sollen die Leute unterkommen?

Keuter: Die AfD hat nicht immer die Musterlösung zu bieten, aber wir sind bereit, ergebnisoffen darüber zu diskutieren. Bei uns haben sich keine Berufspolitiker zusammengefunden, sondern Menschen wie Du und ich, politisch unerfahren. Sie haben wie ich in der AfD eine politische Heimat gefunden zwischen einem Stück Nationalstolz, Besinnung auf deutsche Werte und Tugenden, hochgradig guter Wirtschaftskompetenz, Aufbaugeist und Zusammenhalt und Verantwortungsgefühl für Mitmenschen.

So eine Art FDP, nur mit fremdenfeindlichem Antlitz?

Keuter: Das ist jetzt wieder sehr negativ belegt. Wir schauen uns ganz genau an, wer zu uns kommt. Wir nehmen eine ganz klare Abgrenzung zu politisch extremen Lagern vor, wir vertreten die bürgerliche Mitte. Wir sind da, wo die CDU vor zehn Jahren stand.

Die AfD als guter Hirte auf der rechten Seite der Polit-Weide?

Keuter: Nicht nur rechts. Ich glaube, dass viele Menschen, die sich durch die etablierten Parteien nicht mehr vertreten fühlen, eine neue Heimat in der AfD finden. Das sind nicht nur Protestwähler. Das Volk hat ein Problem. Das Volk will diese Masseneinwanderung nicht. Das Volk möchte keine Plünderung unserer Sozialsysteme. 

Wie kommen Sie darauf, dass Sie für das Volk sprechen?

Keuter: Gut, präziser: Das Wahlvolk der AfD möchte das nicht. Wer außer uns schafft es, Nichtwähler an die Urne zu bringen?

Bei der jüngsten Kommunalwahl im Mai 2014 haben 3,8 Prozent der Wähler AfD gewählt.

Keuter: Das war erst der Anfang. Bei der Landtagswahl im Mai nächsten Jahres werden Sie ein Beben erleben. Wir werden viele Verdrossene erreichen, die bislang das Gefühl hatten: Ich kann eh nix ändern. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass wir in Essen ein zweistelliges Ergebnis hinlegen.

Vom recht guten Ergebnis zur Kommunalwahl haben Sie nicht viel gehabt. Die drei Ratsherren gingen Ihnen von der Fahne. Typisch AfD?

Keuter: Nein, typisch für eine neue junge Partei, die sich noch nicht gefunden hat. Hier sind Menschen aus einem Protestspektrum zusammengekommen – durchaus mit verschiedenen Absichten und Wünschen. Da hat man immer einen kritischen Bodensatz dabei.

„Die AfD ist ein Sammelbecken der verschiedensten Strömungen“

Man wird das Gefühl nicht los, es gehe Ihnen um kalkulierte Tabubrüche, um Beifall aus der rechten Ecke zu bekommen.

Keuter: Sehe ich nicht so. Sie sprechen von Tabubrüchen, ich prangere hingegen die Sprachverbote an, die unter den – jetzt werde ich auch mal provokant – gutmenschlichen Deckmantel des Schweigens gefasst werden.

Diese ganze Stimmung, die die AfD transportiert, die Wut der Zu-kurz-Gekommenen, der Gesellschaftsverlierer, auch der Migrationskritiker kanalisieren Sie Richtung Flüchtlinge. Sie befördern damit ein deutlich aggressives Klima – und wundern sich später, was Sie da losgetreten haben.  

Keuter: Das sehe ich nicht. Ich komme aus der kirchlichen Jugendarbeit, habe mich damals einer schwierigen Gruppe in Byfang angenommen, aus schwierigen Elternhäusern, mit rechtsradikalen Tendenzen. Ich wollte die als schwarze Schafe nicht verloren geben.

Sie wollen uns erzählen, die AfD sei bürgerliche Mitte. Aber der Ex-Republikaner-Ratsherr Günter Weiß einer Ihrer drei Stellvertreter.

Keuter: Die Partei hat es sich damals mit seiner Aufnahme in der Tat nicht leicht gemacht, aber er hat mit den Republikanern gebrochen. Ich habe ihn mir über Monate genau angeschaut.

Und sich derweil bei Pegida mit Lutz Bachmann als Ordner verdingt, in Wuppertal mit den „Hooligans gegen Salafisten“ an Ihrer Seite. 

Keuter: Ich habe dort nur versucht zu vermitteln, die Fronten zu trennen, um Schlimmeres zu verhindern.

Aber bei Pegida in Duisburg haben Sie Equipment gestellt und sind auch als Redner aufgetreten.

Keuter: Ich wollte eine bürgerliche Mitte ansprechen, musste aber feststellen, dass Pegida – anders als im Osten Deutschlands – im Westen nicht die bürgerliche Mitte erreicht. Ich habe mich in der Folge distanziert.

Um ein paar Monate später neben Akif Pirincci zu posieren, kurz nachdem der in Dresden über KZs schwadronierte?

Keuter: Ja, bewusst. Für mich war nicht wichtig, was  er liest, sondern dass er lesen kann, und seien die Inhalte noch so vulgär, noch so anstößig oder abstoßend. Obwohl ich ansonsten keine allzu große Nähe zwischen Pirincci und AfD herstellen wollte.

Ihre Jugendorganisation, die Junge Alternative, hat als Werbegag neulich Pfefferspray an Passanten verteilt. Geht’s noch?

Keuter: Wollen Sie meine persönliche Einschätzung dazu haben? Ich habe das nicht für gut geheißen, bin aber auch vorher nicht dazu gefragt worden.

Was zu beweisen war: Sie sind Scharfmacher, besorgen das Geschäft der Zuspitzung, aber wenn’s brenzlig wird, haben Sie mit nix was zu tun.

Keuter: Den Blickwinkel teile ich nicht. Die AfD wie auch Pegida waren und sind nun mal ein Sammelbecken für die verschiedensten Strömungen.

Ich fürchte dennoch, das mit uns als Freunden, das wird nix mehr.

Keuter: Wenn wir einen fairen Umgang miteinander pflegen, ist das in Ordnung.