Essen. Der Chef des Essener Krisenstabs, Christian Kromberg, über die Kosten bei der Suche nach Asyl-Standorten und über die Sorge vor Flüchtlings-Gettos.

Herr Kromberg, Sie haben einen kleinen Sohn. Waren Sie mit dem schon mal zelten?

Christian Kromberg: Nein, er mag das nicht. Er ist der Meinung, seit man das steinerne Haus erfunden hat, gehört Zelten der Vergangenheit an. Dafür gibt’s Betten und ein Dach über dem Kopf, das findet er deutlich angenehmer.

Und es ist zumindest bei der Flüchtlings-Unterbringung weitaus preiswerter. Wie kam die Stadt überhaupt auf den Trichter, Flüchtlinge in Zelten unterzubringen?

Kromberg: Vor den Sommerferien 2015 hatte Sozialdezernent Peter Renzel signalisiert: Die Zahl der vom Rat beschlossenen verfügbaren Asyl-Plätze gehe zur Neige, gleichzeitig stiegen die Zuweisungszahlen stark an. Wir trafen dann erste Vorbereitungen, stellten etwa neben die Turnhallen Container mit der erforderlichen Ausrüstung, um notfalls handeln zu können. Zugleich kam die Frage auf: Was steht überhaupt zur Verfügung? Was geht besonders schnell?

Statt für die massenhafte Belegung der großen Dreifach-Turnhallen entschieden Sie sich für Zelte.

Kromberg: Weil wir auf alten Sportplätzen einen festen Untergrund vorfanden und dafür keine Baugenehmigung benötigten. Container waren eh nicht mehr am Markt. Ehrlicherweise muss man aber sagen: Wir ahnten nicht, dass aus den ersten drei, vier geplanten Zelt-Standorten am Ende zehn würden. Wir glaubten – mancher mag sagen: naiverweise – an eine Welle, die wieder abebbt.

Denkste. Wann war für Sie klar: Das ist eine ernste Krise, der man auch als solche begegnen muss?

Flüchtlingskrise: Zwölf Interviews, zwölf Blickwinkel

Bislang veröffentlichte Folgen unserer Interviewserie zur Flüchtlingskrise in Essen. Weitere Interviews folgen.

Kromberg: Das kann man an einem Datum festmachen: Es war der 19. August 2015, der Tag, nachdem der Bundesinnenminister die geschätzte Zahl der bundesweit einreisenden Flüchtlinge auf 800.000 heraufsetzte. Danach hat der Oberbürgermeister...

...das war damals Reinhard Paß...

Kromberg: ...schriftlich den Krisenstab etabliert. Vorher war das eine eher informelle Abmachung.

Krisenstab, wie muss man sich das vorstellen? Zigarettenqualmgeschwängerte Luft und rauchende Köpfe, sorgenvoll über den Essener Stadtplan gebeugt?

Kromberg: Sicherlich nicht so dramatisch wie wir das aus Filmen über den „War Room“ des US-amerikanischen Präsidenten kennen, aber so ähnlich. Der Krisenstab arbeitet an einem konkreten Projekt, und dort unterstehen mir für diesen Zweck sämtliche Ressourcen der Stadtverwaltung – unabhängig von meiner eigentlichen Zuständigkeit.

Geht man anders an so ein Thema heran, wenn – sagen wir’s ruhig – die Macht anders verteilt ist?

Kromberg: Ja, natürlich. Vorlagen zur Entscheidung bereiten wir üblicherweise detailliert vor, durch zahllose Gespräche wächst so ein Papier mit der Zeit, es werden Dinge vorab geklärt, Kompromisse geschlossen. Irgendwann sind sie auf dem Höhepunkt des Wissens. Das ist im Krisenstab völlig anders. Sie haben eine völlig unsichere Faktenlage, wissen nicht mal wie viele Flüchtlinge kommen...

...am Ende waren es ja 2015 bundesweit mehr als eine Million...

Kromberg: ...und was sehr den Dialog hemmt: Sie haben unendlichen Zeitdruck.

Wie wichtig war damals die Frage, wie teuer die Unterbringung wird?

Kromberg: Das war insofern ein untergeordnetes Thema, als all das, was uns üblicherweise Kostensicherheit bringt – der Vergabeprozess, die Prüfmechanismen et cetera – wegfiel.

Geld spielte also keine Rolle?

Kromberg: Mit dem Satz würde ich mich nicht zitieren lassen, aber natürlich war Geld eine nachrangige Größenordnung, um die Krise zu bewältigen. Wenn sie die komplette Zeltdorf-Ausrüstung zusammenhaben, es fehlen aber Toiletten-Container, und sie wissen genau: Ohne WCs können sie das Dorf nicht betreiben, dann telefonieren sie halt alles zusammen und winken es durch, auch wenn es tausende Euro mehr kostet. Denn: Sie müssen ein Problem lösen.

Nachher haben es immer alle vorher gewusst, schon klar. Dennoch rückblickend die Frage: Was hätten Sie besser machen können?

Kromberg: Ich halte es da mit Kurt Biedenkopf, der mal einen mehrere tausend Seiten starken Prüfbericht des sächsischen Landesrechnungshofes bekam. In dem war nachzulesen, was bei der Wiedervereinigung alles falsch gemacht worden war. Er hat die letzte Seite aufgeschlagen und handschriftlich notiert: Bei der nächsten Wiedervereinigung werde ich das berücksichtigen. Ganz so ist es bei uns nicht. Wir haben, denke ich, zwar keine großen Fehler gemacht, dennoch kriegt man beim nächsten Mal sicher das eine oder andere besser hin.

Die rückwärtsgewandte Analyse, nur um Patzer zu suchen, fände ich im Übrigen ein Stück demotivierend, aber mit der richtigen Haltung kann die Analyse hilfreich sein. Wir haben viel öffentliches Geld ausgegeben, natürlich müssen wir da Rechenschaft abgeben. Wir sind mit der Krise ja noch lange nicht fertig.

Essen ist die Hauptstadt der Zelte. Wieso kommen die Nachbarstädte anders klar? Gab’s da mehr leerstehende Wohnungen? Nutzen die mehr Turnhallen? Was lief anders?

Kromberg: Das ist eine spannende Frage. Ich glaube, dass die nicht so unter Zeitdruck standen und mehr Gelegenheit hatten, feste Bauten zu errichten. Ich weiß, dass vielerorts Turnhallen genutzt wurden und noch werden. Das war bei uns ein Stück weit tabu, weil wir immer gesagt haben: Wir brauchen eine möglichst hohe Akzeptanz in der Bevölkerung. Und gerade beim Thema Sport hört in Essen der Spaß auf.

Der Zeitdruck entstand doch nicht zuletzt dadurch, dass die Politik ein ums andere zögerte, – wie sagt man so schön? – „vor die Lage“ zu kommen. Also nennenswert Asylplätze auf Vorrat zu schaffen.

Kromberg: Ich mag da nicht kritisieren, denn was ich für die Stadtverwaltung gesagt habe, gilt ja auch für die Politik: Nachher ist man immer schlauer. Wir sehen doch, wie emotional aufgeladen die Standortdebatten laufen. Insofern habe ich einerseits viel Verständnis dafür, dass die Politik sich um die Entscheidungen nicht gerade reißt. Andererseits: Wer hat denn Mitte 2015 wirklich mit einem so rasanten Anstieg der Flüchtlingszahlen gerechnet?

Wir haben in atemberaubenden Tempo die Maßstäbe einkassiert.

Kromberg: Genau. Wir haben ein Tabu nach dem anderen gebrochen. Ich kann mich noch an die Diskussion erinnern, 100 Flüchtlinge an einem Standort seien zuviel. Dann waren es 200, dann 300, schließlich 400...

...und zuletzt schlug die Stadtspitze 800 an einem Standort vor.

Kromberg: Die Politik hat das abgelehnt, aber in unseren Nachbarstädten werden zum Teil noch größere Standorte gebaut. In Hessen gibt es sogar Einheiten mit mehreren tausend Flüchtlingen. Wir haben wirklich alle Grenzen, die vorher gezogen wurden, überschritten, weil einem schlicht nichts anderes übrig blieb.

Welche Rolle spielte im Krisenstab die sozial gerechte Verteilung der Flüchtlinge übers Stadtgebiet?

Kromberg: Wir haben dort unsere Ansprüche ja um genau diese Aspekte stutzen müssen und uns ausschließlich auf die bauliche Machbarkeit konzentriert: Wo gibt es Wasser-, Strom- und Abwasserleitungen? Ein Grundstück, das per Straße erschlossen und nicht voller Altlasten steckt? Fest genug, um schwere Bauten zu errichten, wozu übrigens auch Zelte gehören? Wenn Sie diese Checkliste noch mit Kriterien wie Nord und Süd, Landschaftsschutz und Migrantenanteil in einen Topf werfen und sagen, da muss aber eine vernünftige Suppe herauskommen... Also man kann durch Komplexität Entscheidungen auch verhindern.

Es steht der Vorwurf im Raum, mit dem Hang zu großen Standorten hätten Sie es sich zu einfach gemacht.

Kromberg: Mit den 400er-Standorten haben wir uns an die Obergrenze gehalten – weil ich gar keine anderen Flächen zur Verfügung hatte. Wenn ich größer hätte bauen können, hätte ich es getan, auch aus Kostengründen. Ein 800er-Standort ist eben deutlich günstiger als zwei 400er...

Vielleicht muss ja nicht jede Idee der Krisenstab ausbrüten. In Oberhausen hat die Stadt alle Wohneigentümer angeschrieben, freie Wohnungen zu melden. Mit großem Erfolg.

Kromberg: Wir haben das nicht gemacht, denn Entschuldigung: Dass wir Wohnungen suchen, ist doch allgemein bekannt. Mein Eindruck ist: In Essen haben es die Vermieter womöglich nicht so nötig, die Leerstände sind gering. Dass wir uns auf 600.000 Einwohner zubewegen, ist ja nicht nur den Flüchtlingen geschuldet, die beschleunigen die Entwicklung nur.

Es war also nicht der gezielte Versuch, einen gewissen Leerstand für „Einheimische“ zu reservieren?

Kromberg: Das ist durchaus ein Thema, denn man darf eines nicht vergessen: Flüchtlinge, die wir in Wohnungen unterbringen, konkurrieren nicht um Wohnungen in guten Lagen von Haarzopf, Bredeney oder dergleichen. Sie konkurrieren mit denen, die in der selben „Gehaltsklasse“ liegen, also mit Transferleistungen finanziert werden. Darum finde ich auch die Idee, den Wohnungsbau in Essen massiv anzukurbeln, völlig richtig. Ansonsten machen wir den Markt völlig kaputt. Es ist eben alles hoch komplex, und wir sollten zusehen, dass wir nicht ein Problem lösen, um damit fünf neue zu schaffen.

Zu komplex auch, um die Flüchtlinge jetzt „gerecht“ zu platzieren?

Kromberg: Eine gerechte Verteilung ist ja nur möglich, wenn im Prinzip wir festlegen, wo die Menschen wohnen. Wer also fordert, wir sollten die Menschen alle in Wohnungen unterbringen, muss damit rechnen, dass dann Gettos entstehen. Momentan gibt uns die gesteuerte Verteilung Zeit, darüber nachzudenken, wie wir genau das verhindern.

Vorteil einer Krise, die gottlob von einer Katastrophe weit entfernt ist.

Kromberg: In der Tat, bei allen Problemen: Eine Katastrophe ist das nicht, wir stecken irgendwo dazwischen – in einer hochkomplexen Lage, der wir mit den üblichen Bordmitteln nicht begegnen können. Unsere Gesellschaft schlittert in eine Situation der Verletzlichkeit, und wir müssen Instrumente schaffen, mit denen wir deutlich schneller zu Entscheidungen kommen. Es darf am Ende nicht heißen: Demokratie funktioniert nicht, alles muss autokratisch durch den Krisenstab entschieden werden. Wir sollten schauen: Wie kriegen wir beides unter einen Hut? Da sind wir noch auf der Suche.

Sie sagen selbst, Sie waren gezwungen, noch jedes Tabu zu brechen. Welches fällt als nächstes?

Kromberg: Sie können sich die Frage selbst beantworten: Wo habe ich feste asphaltierte Plätze unter denen Leitungen liegen? Das wären am Ende Straßen. Es gehört deshalb zum Prüfungs-Kanon, Straßen zu sperren, um dort Asylcontainer zu errichten.

Das hat den unwiderstehlichen Charme von: Ein Teil meiner Antwort würde Sie verunsichern...

Kromberg: Ich ahne auch, dass die Prüfung negativ ausfällt. Aber es ist nun mal mein Job, dieses Tabu zumindest gedanklich zu brechen.

Sorgen Sie sich, dass der Krisenstab nicht nur die kommunale Demokratie aushebelt, sondern auch Politik gegen immer mehr Bürger machen muss, die dagegen zu Felde ziehen?

Kromberg: Ja, die Widerstände erlebe ich ja momentan. Und ich denke auch: Der soziale Friede ist in Gefahr. Aber wer seine Augen nicht verschließt vor weltweitem Klimawandel und Kriegen, vor ethnischen Säuberungen und korrupten Systemen, der muss zugeben: Wir hätten wissen können, wenn schon nicht wann, aber dass es passiert. Dies wird man auch den Bürgern sagen müssen: Die Zeit, in der wir die großen Probleme dieser Welt außen vor lassen konnten, sind vorbei. Wir müssen lernen, mit den Folgen umzugehen.

Sie wissen, dass Sie manchem damit richtig Angst machen?

Kromberg: Kann sein. Aber Demokratie heißt für mich auch, dem Volk die Wahrheit zuzumuten. Und zu erwarten, dass man nach dem ersten Schrecken anfängt zu denken. Erst daraus können dann Lösungen entstehen.