Essen. Neben Schlägereien, Ruhestörungen und Unfällen nimmt die Polizei im Alltag auch Anrufe bei Ärger über Schimmelbefall oder den Haarschnitt an.

  • Dieser Text ist am 31.12.2015 erschienen

„Ich will ein anderes Türschloss“, sagt die ältere Dame am anderen Ende der Leitung und erklärt gleich warum: Die Nachbarin habe ihren Schlüssel, nehme ihr gute Sachen weg und lege schlechte hin. „Das widert mich an“, sagt die Anruferin rigoros und erwartet Hilfe. Allein, sie hat den Notruf der Polizei gewählt. Die ist jedoch längst nicht immer der richtige Ansprechpartner. „Es ist wohl die Mehrheit der Anrufer, die nicht über den Notruf kommen sollten“, sagt Nicole Knauer (44), Polizeihauptkommissarin und verantwortliche Dienstgruppenleiterin.

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In der Leitstelle gehen täglich bis zu 1000 Anrufe ein. Hochphase ist an Silvester: „Ab Mitternacht ist an Silvester die Hölle los“, weiß Polizeihauptkommissar Heribert Hanisch und vergleicht diese Nacht mit Sport, nach dem sie nassgeschwitzt nach Hause gehen. Die Telefone klingeln pausenlos, im gleichen Takt schicken sie Streifenwagen zu Massenschlägereien oder Bränden: Sie blicken auf Jahresübergänge zurück, in denen die Polizei bis 5.30 Uhr zu 400 Einsätzen fuhr.

Weihnachten: Alkohol, Streit und Schläge

Weihnachten wiederum sei es auf den Straßen ruhig. Da hocken viele Familien mehrere Tage zusammen, es gibt Alkohol, Streit und Schläge, nennt Hanisch typische Feiertagseinsätze. Außerhalb dieser Extreme sind es durchschnittlich knapp 700 Einsätze täglich in Essen und Mülheim, sagt Nicole Knauer. An den Wochenenden melden Anrufer oft Prügeleien. Zum Stoßgeschäft für die Leitstelle gehören Berufsverkehr und schlechtes Wetter. Einen Großteil der Anrufer machen Anwohner aus, wenn der Nachbar zu laut ist oder es Ärger auf dem Parkplatz gibt.

Es gibt auch traurige Momente, erinnert sich Nicole Knauer an den Anruf einer Mutter, die nach einem Unfall laut um Hilfe für ihr verunglücktes Kind in den Hörer schrie. Die 44-Jährige bemühte sich, die Mutter zu beruhigen. Erst später erfuhr die Polizeihauptkommissarin, dass das Kind zu dem Zeitpunkt bereits tot war. Damit müssen die Beamten ebenso umgehen wie mit verzweifelten Anrufern, die sich das Leben nehmen wollen. Alkohol und Einsamkeit sind Komponenten, die in Richtung Suizid führen: „Diese Kontakte geben wir nicht auf, wir hören zu“, sagt Heribert Hanisch über die Aufmerksamkeit, die diese Menschen brauchen. Oftmals hören mehrere Kollegen zu, andere orten das Handy: „Wir können diese Situationen oft erfolgreich beenden.“ Und damit Menschenleben retten.

Wann ist die Polizei Helfer? Und wann nicht?

Für viele der Bürger ist es aber offenbar schwierig zu erkennen, wann die Polizei ihr Helfer ist. Einerseits ist das ein großer Vertrauensbeweis, sagt Polizeisprecher Peter Elke. Andererseits gibt es diejenigen, die die Polizei selbst dann nicht belästigen wollen, wenn sie Einbrecher beobachten. Es gibt Kinder, die sich einen Spaß erlauben und den Notruf wählen. „Wenn wir Zeit haben und rufen zurück, erschrecken die sich gehörig“, erzählt Hanisch. Senioren, die nachts nicht schlafen können, rufen an, nur um mit jemandem zu sprechen. „Wenn unsere Zeit es zulässt, haben wir durchaus ein offenes Ohr“, sagt der Polizeihauptkommissar. Alles andere wäre in einer ruhigen Nacht auch schäbig. In anderen Zeiten aber müssen sie die Leitungen im Blick behalten, um sie nicht zu blockieren, wenn etwa haarsträubende Anliegen wie die verstopfte Toilette der Anlass sind. Ein Klassiker: Bürger, die sich ausgesperrt haben. Verwundert reagierte Polizeikommissarin Bernadette Schulte kürzlich, als ein Anrufer über Schimmel in der Wohnung klagte. Nicht minder stutzte sie kurz, als eine Frau Fragen zu ihrem Gerichtstermin stellte. „Ich musste ihr schon deutlich sagen, dass das die Notruf-Leitung ist.“

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Andere wählen diese sogar, um ihr Recht einzufordern. So der Käufer, dem der Kioskbesitzer die falsche Handykarte angedreht hatte. Oder die junge Frau mit der Beschwerde über den Friseur, der ihre Haare viel zu kurz geschnitten hatte. „Auch da steckt Polizei drin“, sagt Hanisch. Möglicherweise helfen sie der Kundin, die vollständigen Personalien des Friseurs festzustellen.

Wenn der Arzt das Rauchen verbietet

Fällt aber der Strom aus, „kann die Polizei nicht helfen“, erklärt Nicole Knauer Anrufern. Patienten aus der Psychiatrie hoffen wiederum auf Unterstützung der Polizei, wenn der Arzt das Rauchen verbietet. Selbst Bewohner aus Pflegeheimen melden sich, weil sie fürchten zu verdursten. Da müssen Beamte abwägen, ob diese Sorge berechtigt ist oder der Anrufer womöglich dement. „Diese Belastungen können wir nicht vom Tisch wischen“, sagt Hanisch.

Geduld und Fingerspitzengefühl hingegen erfordern Telefonate mit älteren oder verwirrten Menschen. So versuchte der Polizist mehr als fünf Minuten der Seniorin die gewünschte Nummer des Schlüsseldienstes zu diktieren, nannte einzelne Ziffern immer wieder. Diese zu notieren, gelang ihr nicht. Solche Augenblicke sind keine Ausnahme in der Leitstelle. Es war auch kein Scherzanruf, sondern die traurige Geschichte einer dementen Dame, in deren Gedächtnis nur noch eine Telefonnummer geblieben war: 110. Sie verabschiedete sich schließlich: „Ich rufe Sie bestimmt nochmal an.“

Geiselnahme oder bewaffneter Täter auf der Flucht: Entscheidungen von jetzt auf gleich 

Geiselnahme, Evakuierung oder die Fahndung nach Tätern mit Schusswaffe: Bei diesen Einsätzen sind regelmäßig die Polizeibeamten in der Leitstelle gefragt. „Immer wenn es ad hoc dynamisch wird, sind wir mit im Boot“, beschreibt Polizeihauptkommissar Heribert Hanisch. Außerhalb der Dienstzeiten sind sie als Führungsorgan verantwortlich für alle Lagen. Das Essener Polizeipräsidium übernimmt dann auch die Führung für andere Behörden NRW-weit, wenn es etwa heißt: „Schwer bewaffneter Täter in Köln.“

In Sekundenschnelle organisiert sich das Team der Essener Leitstelle neu, wird verstärkt durch Kollegen der Wachen, die dann zum Beispiel eingehende Notrufe übernehmen. „Manchmal fängt ein Einsatz hier an und geht nach Bayern weiter“, erklärt Nicole Knauer, die als Dienstgruppenleiterin die Verantwortung übernimmt – unabhängig davon, ob möglicherweise vor Ort ein Kollege höheren Dienstgrades im Einsatz ist. Denn die Entscheidungsbefugnis liegt eindeutig beim Kommissar vom Dienst – oder eben der einzigen Kommissarin unter den sechs Dienstgruppenleitern der Essener Leitstelle: Nicole Knauer. „Und selbst wenn hier in der Leitstelle dann alles ruhig funktioniert, laufen im Hintergrund mächtig viele Kollegen los, beschreibt sie die Arbeits-Atmosphäre bei Großeinsätzen.

Bilder aus dem Hubschrauber

Die 44-Jährige ist auf die Informationen der Kräfte draußen angewiesen, entscheidet aus dem Präsidium heraus, ob und wann Hubschrauber oder spezielle Suchhunde angefordert werden. „Das geschieht bei Vermisstenfällen, wenn sich Angehörige bei uns melden“, nennt die Polizeihauptkommissarin ein Beispiel.

„Oftmals sind es zahllose von Entscheidungen, die sofort getroffen werden müssen“, sagt sie und nennt Fahndungen, die eingeleitet werden müssen, Handy-Ortungen und Fragen wie die, ob die Fliegerstaffel zur Verfügung steht. Das leitet die Dienstgruppenleiterin bei Bedarf in die Wege und behält mit Hilfe der Rückmeldung der Kollegen vor Ort stets den Überblick, denn die Oberaufsicht der Einsätze bleibt bei der Leitstelle.

Bilder aus dem Hubschrauber können in dem großen Führungsraum, gleich neben der Leitstelle, auf den Bildschirm übertragen werden. An dem langen Tisch dort kommt auch der Stab bei Lagen wie Banküberfall oder Geiselnahme zusammen, aber ebenso bei Risikospielen im Fußball. An den Wänden hängen Listen, auf die im Ernstfall Angaben und Beschreibungen von Opfern und Tätern notiert werden: Waffe und psychischer Zustand fallen darunter.

Essener Leitstelle soll 2016erweitert werden 

In der Leitstelle der Polizei arbeiten rund 40 Beamte in drei Schichten. Als Verantwortliche gibt es sechs Dienstgruppenleiter und sechs Führungsassistenten, die sich in diesen Positionen abwechseln. Vom Präsidium an der Büscherstraße koordinieren sie etwa 250 000 Einsätze im Jahr in Essen und Mülheim, sagt Reinhold Ullrich, der Chef der Leitstelle und des Lagezentrums. Die Einsätze reichen vom Streifenwagen, der an der Alten Synagoge postiert wird, bis zu Tötungsdelikten.

Dazu sind in jeder Schicht sechs bis zehn Plätze in der Leitstelle besetzt. Diese sollen nun erweitert werden, „denn die Anforderungen werden immer größer, so dass wir derzeit voll ausgelastet sind“, sagt Ullrich. Der Plan sieht vor, dass die Zahl der Arbeitsplätze künftig auf 16 wachsen soll.

Dort klingeln die Telefone nicht ausschließlich, wenn ein Bürger die 110 wählt. Vielmehr gibt es zahlreiche weitere Anschlüsse, über die Anrufe der Feuerwehr oder auch von Behörden wie beispielsweise dem Einwohnermeldeamt eingehen.

Auch wenn es Weihnachten in der Leistelle viel zu tun gibt und Silvester die unruhigste Nacht im Jahr ist, so gibt es im Alltag diese Hochphasen nicht so eindeutig wie früher an Wochenenden, sagt der Leiter. Doch morgens von drei bis sieben Uhr werde es in der Regel ruhiger.

Beim Pfingststurm liefen Drähte heiß

Wie viele Anrufe im Präsidium ins Leere laufen, weil ein Anrufer vorher auflegt oder die Leitungen überlastet sind, diese Zahlen sind für das Essener Präsidium nicht bekannt. Denn im Gegensatz zu anderen Dienststellen fehlt die Technik dafür, erklärt ein Ministeriums-Sprecher. Eine Nachrüstung solle erfolgen, einen Zeitpunkt dafür nennt er nicht.

Besorgen muss das die Bürger nicht. Denn heiß laufen die Drähte besonders dann, wenn Ereignisse mehrfach gemeldet werden: Unfälle auf der Autobahn oder Unwetter wie der Pfingststurm 2014, erklärt Polizeisprecher Peter Elke. Kommt dann nicht jeder gleich durch, bedeutet das nicht, dass die Polizei nicht informiert ist.