Essen. Frank Kerner ist im Ruhrmuseum zuständig für die sozialhistorische Sammlung. Wie das Haus an die Gegenstände kommt, ist oft eine spannende Geschichte.

Wieviele Exponate in den Kellern des Ruhrmuseums liegen, Frank Kerner weiß es auch nicht so genau. „Zwischen 100.000 und 150.000 werden es sein“, schätzt der 57-jährige Historiker. Seit 1982 ist Kerner Museumsmann, zählt zu den Urgesteinen des Hauses, das spätestens mit dem Umzug nach Zollverein den Anspruch erhebt, das Gedächtnis nicht nur der Stadt Essen, sondern der ganzen Region zu sein.

Mit der laufenden Ausstellung „Arbeit und Alltag“ löst das Ruhrmuseum dies erneut souverän ein, und Kerner leistet dazu einen wichtigen Beitrag. Als Verwalter und Mehrer der sozialhistorischen Sammlung ist er meist der erste, der Nachlässe, Schenkungen oder Kaufangebote erhält. Er muss einen Blick dafür haben, ob sich in einem Objekt Alltagsgeschichte oder Lebenszusammenhänge verdichten, ob nur nostalgische Gefühle bedient werden – oder ob es sich um Müll handelt.

„Alle sammeln Grubenlampen, also sammele ich Weißblechpullen“

Die Unterscheidung ist nicht so einfach, wie man meinen könnte, was vielleicht nirgendwo in der Ausstellung so deutlich wird wie in jener schlichten Vitrine, in der 42 Kaffeepullen aus Weißblech stehen, die reichlich Gebrauchsspuren aufweisen. Gesammelt hat sie die Sekretärin des Direktors der längst geschlossenen Gelsenkirchener Zeche Nordstein. „Sie dachte sich, alle sammeln Grubenlampen, also sammele ich Weißblechpullen“, so Kerner. Über die Jahre wurde ihre Sammelleidenschaft so bekannt, dass mancher pensionsreife Kumpel sein Trinkgefäß nach der letzten Schicht im Büro des Direktors abgab.

All dies war aber längst in Vergessenheit geraten, als eines Tages ein älteres Ehepaar bei Frank Kerner auftauchte und in einem blauen Müllsack jene 42 Pullen anschleppte. „Es war die Schwester der Sammlerin, und sie fragte, ob wir damit etwas anfangen könnten.“ Nun muss man wissen, dass Bergleute unter Tage nicht viel tranken außer Kaffee, dass die Pullen ein Erkennungsmerkmal waren und dazu gehörte wie die Lampe, und dass mancher Bergmannssohn den drohenden Satz hörte: „Wenn du in der Schule sitzen bleibst, kriegst du die Pulle unterm Arm und gehst zum Pütt.“

Manches Exponat wartet schon lange auf den großen Auftritt

Frank Kerner wusste all das. Und so erzählen gerade diese 42 vermackten Pullen eine Geschichte, von der sich viele Ausstellungsbesucher faszinieren lassen. Die Aura des Originals, die ästhetische Schönheit des Schlichten und die sozialhistorische Bedeutung kommen hier zusammen – perfekt.

Nicht immer geht das so auf, manches Exponat wartet schon lange auf den großen Auftritt und wird ihn vielleicht nie erleben. „Das, was wir bislang gezeigt haben, ist eine einstellige Prozentzahl dessen, was wir haben“, sagt Kerner. Aber ein Museum sammelt eben nie nur für sich selbst oder die Gegenwart, sondern immer auch für andere und immer auch für die Zukunft. Wer kann wissen, was Ausstellungsmacher in 50 oder 100 Jahren für wichtig halten?

„Opas Sachen im Museum – das ist wie eine Nobilitierung“

Manchmal ergeben sich für ein Objekt auch verblüffende Karrieren. Das original verpackte Wehrmachts-Kondom aus dem Jahr 1942 spielte in der Weltkriegsausstellung des Ruhrmuseums nur eine kleine Rolle, nach Hamburg entliehen für eine Ausstellung mit dem Titel „Sex als Arbeit“ aber eine ungleich größere. So kann’s gehen.

Meist hätten die Menschen übrigens keine besonderen finanziellen Erwartungen, wenn sie beim Aufräumen des Dachbodens oder beim Entrümpeln von Opas Wohnung etwas finden, was sie für museal halten. „Manche sagen, es geht mir nicht ums Geld, ich will nur Dinge, die für mich wertvoll sind, gut untergebracht wissen.“ Wenn Kerner die Begeisterung über Urkunden oder Bilder, Kleidung oder Alltagsgegenstände nicht ganz teilen kann, sind sie traurig – wenn aber doch ist die Freude groß: „Opas Sachen im Museum – das ist wie eine Nobilitierung, ein Ritterschlag“, sagt Kerner. In einer schnelllebigen Zeit ist die Sehnsucht nach Beständigkeit offenbar groß, und wer es ins Museum schafft, hat in gewisser Weise einen Schritt in die Ewigkeit getan.

Märklin-Bahnhof für 25.000 Euro ist mit das wertvollste Stück

Für das Ruhrmuseum ist dieses Renommee wichtig, denn Geld für große Ankäufe gibt es nicht. Umgekehrt ist allerdings auch der materielle Wert vieler Exponate nicht sehr hoch. Befragt nach sehr teuren Schätzen im Keller, fällt Kerner ein „Märklin“-Bahnhof aus den 1920er Jahren ein. „Im Internet wird der für 25.000 Euro gehandelt“.

Persönlich bewegt hat den eher nüchternen Museumsmann aber ein Stück, dessen Materialwert bei Null liegt: „Das war ein Taufkleid, das eine Familie über Generationen benutzte, und das auch einmal im Luftschutzbunker umgenäht wurde.“ Geschichte, die sich in einem Exponat verdichtet – die Philosophie des Ruhrmuseums wird hier wie unter dem Brennglas deutlich.