Essen. Essens Stadtchef Thomas Kufen spricht im Interview über die Probleme mit der Flüchtlingskrise und darüber, wie der öffentliche Nahverkehr werden soll.
Oberbürgermeister Thomas Kufen über den Empfang im neuen Amt, die Probleme der Flüchtlingskrise und das Via-Projekt: Ziel sei eine „vollintegrierte Verkehrsgesellschaft“ mit anderen Städten, um Evag-Angebote zu erhalten.
Herr Kufen, wie war der Empfang für Sie im Rathaus?
Thomas Kufen: Sehr freundlich. Es gibt eine große Erwartungshaltung und sehr viel Interesse. Viele Mitarbeiter sind gespannt darauf, was sich ändert. Auf der OB-Etage des Rathauses sind die Türen wieder offen.
Gab es Mitarbeiter, die von Ihnen überrascht wurden?
Kufen: Die Dame in der Kantine, die erstaunt war, dass da jemand so früh ein belegtes Brötchen wollte. Ich wusste nicht, dass die Rathaus-Kantine erst um 7.30 Uhr öffnet. Sie fragte, ob ich Mitarbeiter oder Externer sei (lacht) und ließ mich rein, als ich sagte, ich sei Mitarbeiter. Inzwischen kennt sie mich aber schon.
Es fiel auf, dass Sie bei mehr Anlässen als früher üblich die Amtskette tragen. Und hinter Ihrem Schreibtisch steht die Fahne mit Stadtwappen und den Stadtfarben. Gehen Sie unbefangener mit Symbolen um?
Kufen: Sagen wir: Ich pflege damit einen bewussteren Umgang. Dass hier eine Fahne steht, finde ich für ein Dienstzimmer angemessen. Ich empfange ja beispielsweise auch internationale Gäste. Man soll erkennen: Das ist hier das Büro des Essener Oberbürgermeisters. Ich habe den Eindruck, dass das honoriert wird. Bei Einträgen von Gästen in unser Stahlbuch werde ich grundsätzlich die Amtskette tragen.
Sie kommen gerade aus Berlin, haben gemeinsam mit anderen Stadtoberhäuptern unter anderem mit der Bundeskanzlerin über die Flüchtlingskrise und die Lage der Kommunen gesprochen. Was haben Sie sie gefragt?
Kufen: Erstens: Wie viele Flüchtlinge kommen noch? Zweitens: Wie lange hält der Zustrom an? Beantworten kann diese Fragen natürlich auch die Kanzlerin nicht. Ich bleibe aber dabei: Es gibt eine Grenze der Aufnahmefähigkeit, die wir besser nicht austesten sollten. Derzeit stehen wir morgens auf mit dem Flüchtlingsthema und gehen abends damit zu Bett. Es überlagert alles.
Was sind die drängendsten Probleme bei diesem Thema?
Kufen: Ende des Jahres werden etwa 6000 Flüchtlinge in Essen leben, in festen Einrichtungen haben wir 1100 Plätze, in Behelfseinrichtungen 900. Die Unterbringung in Zeltdörfern und Turnhallen kann keine Dauerlösung sein. Also müssen wir festen Wohnraum für 4000 Menschen schaffen – mindestens. Denn ab 1. Januar kommen nach jetzigem Stand weitere Menschen zu uns. Um etwas Vorrat zu haben, müssten wir Wohnraum für bis zu 10 000 Menschen schaffen. Und dafür müssen wir Standorte finden. Wo genau, darüber müssen wir uns in der Stadt jetzt verständigen.
Man kann sich schlecht vorstellen, wie das allein finanziell gehen soll.
Kufen: Das kann ich mir im Moment auch schwer vorstellen. Aber da haben längst die Überlegungen in der Verwaltung begonnen. Allein im Jahr 2015 haben wir gut 400 Flüchtlinge in Wohnungen untergebracht. Da geht noch mehr. In dem Moment, wo wir jedoch nicht mehr weiterkommen, müssten wir als Stadt Essen sagen: Wir können nicht aufnehmen. Meine Forderung ist, den Städten nur Flüchtlinge zuzuweisen, die auch bleiben. Wir haben in Essen aber immer noch 1300 Menschen aus den Westbalkanstaaten in unseren Einrichtungen. Wenn die schneller zurückgeführt würden, dann brauchen wir weniger Plätze, denn diese Menschen haben keine Chance zu bleiben. Aber wir brauchen auch im Verantwortungsbereich von Bund und Land auf anderen Gebieten mehr Klarheit.
Nämlich?
Kufen: Wir wissen zu wenig über die Menschen, die gekommen sind. Welche Fähigkeiten haben sie, welchen beruflichen Hintergrund, welchen Gesundheitsstatus? Wir als Stadt sind zuständig für die Integration, damit keine Parallelgesellschaften entstehen: Kita, Schule, Sprachkurs, um nur einige Beispiele zu nennen. Nur dazu kommen wir überhaupt nicht, weil wir viel zu viel mit Registrierungsfragen zu tun haben. Da müssen schnell Fortschritte her, sonst passiert das gleiche wie in den 1990er Jahren mit den staatenlosen Libanesen: Ein Leben zwischen Duldung und Abschiebung, ohne Job-Perspektiven, und am Ende sind immer noch alle da.
Wo stehen Sie bei den aktuellen Konflikten um das Thema Familienzusammenführung?
Kufen: Da bin ich eher auf der Seite des Bundesinnenministers als auf der der Bundeskanzlerin. Wir stellen jetzt schon fest, dass es bei den Syrern Zuzüge aus ganz Deutschland nach Essen gibt. Im letzten Jahr lebten 1250 in Essen, jetzt 4100. Wo es eine größere Community gibt, da zieht es die Menschen eben hin.
Was ist Ihre Forderung?
Kufen: Schaut nicht nur auf die Gesamtzahlen, sondern darauf, was passiert, wenn die Flüchtlinge im Land sind! Dann zieht es sie nämlich in die Zentren wie etwa Essen. Deshalb wage ich die These: Diese Stadt wird sich stark verändern. Im Positiven, denn die demografische Entwicklung wird wegen der vielen jungen Leute günstiger. Aber auch im Negativen. Unter den Flüchtlingen ist ein hoher Anteil von bildungsfernen und traumatisierten Menschen. Selbst wer in Syrien Arzt war, ist mit seiner Qualifikation sehr weit entfernt von Berufsstandards im Gesundheitswesen in Deutschland.
Klingt nicht nach rosigen Zeiten.
Kufen: Was soll ich jetzt machen: Den Kopf in den Sand stecken? Nein, die ganze Stadtverwaltung und die Stadtgesellschaft richten sich jetzt auf diese Frage aus. Mit deutscher Gründlichkeit in puncto Bürokratie wird es allerdings nicht zu schaffen sein. Es ist eine Zeitenwende. Zum ersten Mal sehen wir nach dem Zweiten Weltkrieg, dass sich globale Konflikte nicht nur im Fernsehen abspielen, sondern ganz konkret bis an unsere Haustür schlagen.
Glauben Sie, die Essener sind bereit für solche Umbrüche?
Kufen: Ja, was Veränderungsprozesse betrifft, waren wir doch immer Weltmeister. Sonst hätten wir aus der Stadt von Kohle und Stahl keine Kulturhauptstadt und keine Grüne Hauptstadt machen können. Bei uns kann man nicht mit einem langen Stammbaum prahlen. Hier sind immer Leute hingekommen, die ihr Ding machen wollten. Wer sich an die Regeln hält, der wird auch akzeptiert. Aber: Das muss sein!
Nahverkehr: OB ist bereit, auf Macht zu verzichten
Themenwechsel: Wie geht es weiter mit dem Zusammenschluss der Verkehrsbetriebe von Essen, Mülheim und Duisburg? Das so genannte Via-Projekt kommt anscheinend nicht von der Stelle.
Kufen: Es sollen bis zum Jahresende die Ratsbeschlüsse fallen, das fordert die Bezirksregierung. Und zwar zu Recht. Man muss auch die Frage stellen, ob es Exit-Strategien gibt für die Duisburger. Denn dieses Hängen und Würgen, das mache ich und machen wir in Essen nicht mehr weiter mit.
Via also notfalls ohne Duisburg?
Kufen: Klar. Es muss sich was ändern. Dazu brauchen wir endlich die vollintegrierte Verkehrsgesellschaft – oder eine saubere Trennung.
Und wie ginge es nach einer denkbaren Scheidung weiter?
Kufen: Dann müssen wir eben schauen, wie wir mit anderen Partnern zusammenkommen. Die interkommunale Zusammenarbeit ist mir sehr wichtig, und ich will, dass wir da im Ruhrgebiet weiterkommen, gerade beim Personennahverkehr. Das verlangt auch die Bezirksregierung mit großem Nachdruck. Jede Veränderung im Ruhrgebiet wird aber nur aus der Mitte der Region kommen – gemeinsam mit Essen.
Thomas Kufen: „Wir brauchen nicht so viele städtische Gesellschaften“
Sind Sie wirklich bereit, Macht abzugeben? Das wäre neu im Ruhrgebiet.
Ach wissen Sie, was heute als Macht verkauft wird, ist doch morgen schon Ohnmacht. Die Bürgerinnen und Bürger wollen bequem und sicher von A nach B kommen. Wenn wir in diesem Sinne bessere Leistungen bekommen, bin ich bereit, einen Schritt zurückzutreten. Ich habe die Hoffnung, dass wir bei einer guten Kooperation ohne Sparschnitte auskommen, die das Angebot der Evag verschlechtern würden.
Die Skandale um die Stadttöchter haben viel dazu beigetragen, dass die Essener einen Neuanfang an der Stadtspitze wollten. Und es ist noch viel aufzuklären. Wie ist der Stand etwa bei den ungeklärten Millionenzahlungen für das Beratungsunternehmen Roland Berger?
Kufen: Ich stehe staunend davor, wie ein solch international agierendes Unternehmen so hohe Summen abgerechnet hat, ohne einen Vertrag vorweisen zu können. Denn wenn sie den hätten, dann hätten sie ihn uns ja gegeben. Mit dem Thema bin ich noch nicht fertig. Generell gilt: Wir brauchen mehr Kontrolle, an den Regeln arbeiten wir. Politik und Verwaltung müssen aus den Vorfällen lernen, damit so etwas nicht mehr vorkommt. Und ich sage auch nach der Wahl so wie davor: Wir brauchen nicht so viele städtische Gesellschaften.
Beim früheren Chef der städtischen Immobilientochter GVE, Andreas Hillebrand, hatten sie eine härtere Gangart angemahnt als der frühere OB für angezeigt hielt. Was ist daraus geworden?
Kufen: Wir prüfen jetzt alle personalrechtlichen Konsequenzen.