Essen. Folkwang Hochschule, RAG-Zentrale, Veranstaltungshalle, neue Gastronomien: Auf Zollverein werden 2016 über 150 Millionen Euro investiert. Der Chef triumphiert: „Kritiker waren immer sehr ungeduldig.“
Zollverein kommt! Wieder einmal. Oder nein: immer noch. Wenn man das alljährliche Stelldichein der Immobilienbranche auf der Münchner Messe „Expo Real“ verfolgt, geht es dort ein bisschen so zu wie an der Börse. Wo man vor allem eine Story braucht, um Fantasie zu wecken. Und es gibt vielleicht keinen Besseren als Hermann Marth, diese für das Treiben im Zeichen des Doppelbocks zu erzählen.
Der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Zollverein, einst Chef der RAG-Immobilientochter, den mancher Zollverein-Player aus eher fadenscheinigen Gründen gern stiekum entsorgt hätte, plädierte stets für Geduld unter all jenen, denen die Entwicklung des Weltkulturerbes nicht schnell genug gehen konnte. Und darf in diesen Tagen nun zum Trommelwirbel für das Weltkulturerbe ausholen, denn 2016, wenn man auf Zollverein 30 Jahre Schicht am Schacht feiert, wird ein regelrechter Bauboom das 100-Hektar-Areal verändern.
Es drehen sich die Kräne für die neue RAG-Zentrale an der Kokerei und für die Folkwang-Universität der Künste, die Veranstaltungshalle „Grand Hall Zollverein“ öffnet, im Kammgebäude warten mit dem Produktentwicklungsbüro MMID und den Einrichtern von Möbel Loft zwei der sechs Mieter bereits auf ihren Einzug. Drei weitere Verträge sind unterschriftsreif, ein letzter in den Endverhandlungen.
Ganz schön viele Eröffnungstermine
Dazu investiert die Stiftung in die neue Gastronomie in Halle 4, am Fuße des Doppelbock-Gerüsts und vis-à-vis des Ruhr Museums. Das Hotel neben dem Tanzzentrum PACT entsteht, hinzu kommt eine Pflegedienst-Zentrale im alten Stellwerk, in der alten Salzfabrik ein Schaudepot fürs Museum und nur wenige Meter davon entfernt ein neues Parkhaus. Wer zu all den Eröffnungsterminen auf die neuen Zollvereiner anstoßen will, so könnte man scherzhaft sagen, wird anno 2016/2017 Schwierigkeiten bekommen, zwischendurch wieder nüchtern zu werden.
Für Marth ist dieser Investitionsschub in einer Größenordnung von 150 Millionen Euro die Ernte der Arbeit vergangener Jahre, in denen man sich nicht hat verrückt machen lassen von denen, die frühe Erfolge sehen wollten: „Ich empfand die Kritiker immer als ausgesprochen ungeduldig“, sagt der 62-Jährige, der als neue Jahreszahl den Blick auf 2020 empfiehlt, Ausrufezeichen inklusive. Und dem nicht bang darum ist, wenn es halt etwas länger dauert, bis man in der neuen Gastronomie mit Blick auf die wuchtige Kohlenwäsche sein Bierchen trinken kann: „Man kann, nein, man sollte sich ruhig Zeit lassen bei der Entwicklung.“ Und es wirken lassen: „Zollverein darf eben kein beliebiger Investitionsstandort sein, sondern soll als Weltkulturerbe ein Solitär bleiben.“ Und nur beherbergen, was auch auf lange Sicht wünschenswert und nachhaltig ist.
Bloß nicht zu viel auf einmal einstielen und hinterher verpassten Gelegenheiten nachtrauern. Darum auch soll der Wagenumlauf auf dem Schachtgelände 1/2/8 erst einmal bewusst nicht vermarktet werden: „Wir wollen abwarten, welche Trampelpfade sich entwickeln, wenn sich hier erst einmal 600 Studenten zwischen der Folkwang-Uni und dem Sanaa-Würfel auf den Weg machen. Und deshalb scheut sich Marth auch mit Blick auf die leerstehende Halle 8 nicht, vorerst keine Antwort zu geben, was dort einmal passieren soll: „Vielleicht fällt uns ja was ein“, lacht er, und man ahnt: Es gibt Ideen, aber keine spruchreifen. Es nützt nichts nachzufragen.
Wo Zollverein 2020 landet? Es wird ein anderes Leben hier sein, glaubt Marth, „viel mehr Dynamik geht nicht“, und er mag dabei nicht lange über Zahlen fachsimpeln: 1,5 Millionen Besucher zählt das Weltkulturerbe derzeit, vielleicht geht ja nicht mehr als zwei Millionen, mal sehen. Wichtiger Baustein dafür könnte ein weiterer Denkmalpfad sein, der die 600 Meter lange Koksofenbatterie einbezieht und sie Schritt für Schritt zugänglich macht. Sie arbeiten daran, wollen Millionen investieren, aber gemach: Zwei, drei Bauabschnitte will man in den nächsten fünf Jahren abwickeln, von fünf oder sechs insgesamt. „Für so ein Weltkulturerbe muss man sich Zeit nehmen.“
Neue RAG-Zentrale soll 2017 bezugsfertig sein
Es hat Zeiten gegeben, als die RAG ihre „Ruhrkohle“ noch nicht hinterm „R“ versteckte, da gewährte selbst das Auf und Ab der Aufzüge in der Firmenzentrale tiefe Einblicke in ein Stück Unternehmenskultur. Schließlich galt es, die „Proletenbagger“ für die Belegschaft von den „Bonzenschleppern“ für die Großkopferten zu unterscheiden.
Strukturwandel auch im Vokabular
Ein paar Jahrzehnte später ist der Strukturwandel des Energiekonzerns auch im Vokabular angekommen, denn wenn die RAG von ihrem neuen Verwaltungsneubau auf Zollverein spricht, dann will man vor allem „nachhaltig“ sein und „energiesparend“, „recyclinggerecht“ und „schadstofffrei“. So als wolle man den Wunden, die der Bergbau der Natur einst beibrachte, um Himmels willen keine neuen mehr hinzufügen. Sondern sich bescheiden verbeugen vor der eigenen Geschichte - und dem Weltkulturerbe gleich nebenan.
Planerisch umgesetzt hat dies das Aachener Büro „kadawittfeldarchitektur“, dessen Entwurf für den neuen Sitz von RAG-Stiftung und RAG Aktiengesellschaft gestern bei der „Expo Real“ erstmals vorgestellt wurde. Anfang 2016 soll der L-förmige Bau als zweigeschossiger Bürokomplex beginnen, in dem dann im Herbst 2017 rund 220 Mitarbeiter ihren neuen Arbeitsplatz finden – gleich neben der RAG-Tochter Montan Immobilien, die bereits vor gut drei Jahren im Schatten der einstigen Kokerei Zollverein ihre Zelte aufschlug. Eigentümerin des Gebäudes ist die RAG-Stiftung, als Generalübernehmer fungieren die Projektentwickler von Kölbl Kruse.
Das Vorhaben ist dabei nur eines aus einer ganzen Reihe von Neubau- und Sanierungsprojekten, die dem Welterbe-Standort im kommenden Jahr einen regelrechten Bauboom bescheren werden - und in der Folge, so hoffen alle Beteili-gten - neues Leben ins Quartier bringen.
Städtekooperation will „Emil-Emscher“ neu entdecken
Die Brache, auf der Ikea sein neues Einrichtungshaus baut, liegt wohl ein paar Kilometer entfernt. Aber mehr noch als dort gilt hier im äußersten Norden der Stadt der Wahlspruch des Einrichtungsriesen: „Entdecke die Möglichkeiten.“
Denn hunderte Hektar Land, einst dem Bergbau und der Kohlelagerung gewidmet, warten darauf, neu erobert zu werden. Wer von der Autobahn A42 den Blick schweifen lässt, blickt derzeit noch auf Kohleberge, doch dahinter erstreckt sich - zumindest auf der Essener Seite - industrielles Ödland, das alte Zechenareal Emil-Emscher, das nur auf den ersten Blick die andauernden Klagen über mangelnde Gewerbeflächen in der Stadt Lügen straft.
Denn über Jahrzehnte wurde dieses Areal vorzugsweise über Wasser- und Schienenwege erschlossen, die Nord-Süd-Anbindung über die A52 aber, deren nördlicher Lückenschluss hier auf die Gladbecker Straße treffen sollte, blieb stets ein Phantom. „Um nicht noch einmal 30 Jahre auf die A52 warten zu müssen“, so Thomas Schürkamp, schicken sich die Nachbarstädte Essen und Bottrop und Grundstückseigentümer RAG Montan Immobilien jetzt an, die Chancen dieses Areals für eine wirtschaftliche Neunutzung auszuloten. Und vornean steht dabei auch die Frage der verkehrlichen Anbindung.
Gestern unterzeichneten Essens Stadtdirektor Hans-Jürgen Best, Bottrops Oberbürgermeister Bernd Tischler und der Chef der RAG Montan Immobilien, Professor Hans-Peter Noll, eine entsprechende Kooperations-Vereinbarung. Für Schürkamp, Projektleiter auf Seiten der RAG Montan Immobilien, ist sie auch eine Antwort auf die jüngst noch von Bundestagspräsident Norbert Lammert beklagte „Kirchturms“-Struktur des Ruhrgebiets. Denn Ziel soll ein „Interkommunaler Entwicklungsplan“ sein, der es ermöglicht, Bergbau- und Brachflächen im Bottroper Süden und im Essener Norden in einem Zug zu entwickeln. „Wir brauchen eine große Idee für das Gemeinsame“, heißt es - um dann unter Umständen Teilflächen herauszusuchen, die sich vorzeitig entwickeln lassen. Denn der große Wurf, so Planungsdezernent Best, ist fraglos eine Aufgabe von Generationen: Bis Ende 2018, wenn der Bergbau in Deutschland ausläuft, soll die 1,8 Millionen Euro teure Machbarkeitsstudie den Weg weisen.