Essen. . Nur noch ein Chef für zwei Städte: Mit der Wahl von Volker Becker-Nühlen reagiert die Gewerkschaft auf den Mitgliederrückgang.
Da, wo Volker Becker-Nühlen vor über 40 Jahren seine Lehre als Werkstoffprüfer bei der Thyssen Niederrhein Oberhausen begann, steht heute der Einkaufstempel Centro. Eine Entwicklung, die als Inbegriff für den Niedergang der Industrie und den Strukturwandel im Ruhrgebiet steht und die bis heute die Arbeit des 62-Jährigen bestimmt. Becker-Nühlen ist vor wenigen Wochen zum neuen Chef der IG Metall in Essen gewählt worden. Mit sehr großer Mehrheit, wie er betont. Und die aus seiner Sicht nicht selbstverständlich ist – vor Jahren vielleicht sogar undenkbar gewesen wäre. Denn gleichzeitig ist er seit drei Jahren auch IG-Metall-Chef in der Nachbarstadt Mülheim.
Der Verlust Zehntausender Industrie-Jobs in der Region zwingt jedoch die IG Metall zu Veränderungen, wenn sie nicht an Schlagkraft einbüßen will. Die beiden Verwaltungsgeschäftsstellen in Mülheim und Essen arbeiten schon länger zusammen. Ein gemeinsamer Bevollmächtigter ist jetzt der nächste Schritt. Natürlich habe es Bedenken gegeben, ob die Gewerkschaft ihre lokale Verwurzelung ein Stück weit aufgeben würde. „Doch der Weg ist richtig“, sagt Becker-Nühlen. Ob er sogar dahin führen wird, dass es einst nur noch einen Chef und eine Geschäftsstelle für Essen, Mülheim und Oberhausen gibt, darüber will er nicht spekulieren. Im nächsten Monat wird er 63. „Wer weiß, was in zwei Jahren ist.“
35 Prozent weniger Industriearbeitsplätze
Der Blick zurück zeigt jedenfalls die Dramatik, mit der die Gewerkschaft zu kämpfen hat: In den vergangenen 15 Jahren sind in Essen 35 Prozent der Industriearbeitsplätze weggebrochen. In der Region mit Mülheim und Oberhausen zusammen waren es fast 20 Prozent. Das sind Zahlen der Industrie- und Handelskammer.
Und der Abbau geht weiter, allein Siemens will in den kommenden Jahren hunderte Jobs in Essen und Mülheim streichen. An eine Renaissance der Industrie, wie sie mancher herbeiredet, würde Becker-Nühlen zwar gern glauben. Seine Realität ist eine andere: „Wir müssen alles dafür tun, dass wir wenigstens das erhalten, was wir noch haben“, sagt er und weiß, dass der Druck auf die Gewerkschaft – Zugeständnisse zu machen – zunehmen wird. Die IG Metall habe sich Lösungen nie verweigert. Allerdings ist die rote Linie für Becker-Nühlen dabei abgesteckt: Es müsse darum gehen, wie Arbeit besser werde. „Den Wettlauf, billiger zu sein, den werden wir hier nicht gewinnen.“
Stärker als bislang will die IG Metall ihre Stimme daher bei industriepolitischen Themen erheben. „Wir müssen zum Akteur werden“, unterstreicht Becker-Nühlen. Dass in Essen ein Masterplan Industrie von der Wirtschaftsförderung aufgelegt wird ohne die IG Metall an Bord, das dürfe es so nicht mehr geben. „Wir wollen stärker als bislang in diese Kreise rein“, sagt Becker-Nühlen und kündigt Gespräche u.a. mit der Wirtschaftsförderung und der Arbeitsagentur an, um auszuloten was man gemeinsam tun kann, um mehr Arbeit nach Essen zu holen. Das gleiche gelte für das Thema Ausbildung.
Auch bei der Mitgliedergewinnung muss die Gewerkschaft neu denken. Das Image des „Blaumanns mit der Trillerpfeife“ hänge ihr zwar häufig noch an. Mit der Wirklichkeit habe es immer weniger zu tun: Mit dem Wandel hin zu Dienstleistungen auch im industriellen Sektor rücken die Angestellten in den Fokus. Diese seien jedoch viel schwieriger für die Idee der Gewerkschaft zu gewinnen. Für die IG Metall bedeute das, dass sie neue Angebote machen muss, seien es Arbeitszeitmodelle oder Themen wie Bildung und Gesundheit. Die klassische Arbeit der Gewerkschafter, sie verändere sich.