Essen. . Am 18. Juni gewinnt Essen den Titel für die „Grüne Hauptstadt Europas“. Am gleichen Tag schreibt die EU-Kommission einen blauen Brief: schlechte Luft in Essen.
Guter Junge, böser Junge - erst vor drei Wochen gewinnt die Stadt Essen den Titel „Grüne Hauptstadt Europas 2017 – auch mit dem Versprechen, dass die Belastung durch Luftschadstoffe „flächendeckend und dauerhaft auf einem Niveau unterhalb der EU-Grenzwerte“ gebracht werden soll. Jetzt aber kommt von der Europäischen Kommission eine schallende Ohrfeige nach Essen, weil die Ruhr-Metropole mit zu den bundesweit 23 Gebieten und Städten gehört, bei denen damit gerechnet werden muss, dass der europaweit geltende Grenzwert für atemwegbelastende Stickoxide (NO2) erst im Jahre 2020 oder später nicht mehr überschritten wird.
Heißt: Essen nimmt mit in Kauf, am Ende mindestens zehn Jahre lang gegen geltendes europäisches Recht verstoßen zu haben.
Dabei hatte die Stadt, als sie am 17.Juni vor der Jury in Bristol um den Grünen-Hauptstadt-Titel rang, gar nicht mal zu viel versprochen und mit offenen Karten gespielt. Als Zukunftsziel wurde schwarz auf weiß festgeschrieben, die Stickoxid-Grenzwerte spätestens 2035 einzuhalten. Also möglicherweise erst in 20 Jahren!
Am 18. Juni gab EU-Umweltkommissar Karmenu Vella in Bristol bekannt, dass Essen der Hauptstadt-Titelsieger wird. Genau am gleichen Tag verfasst das Generalsekretariat der Europäischen Kommission in Brüssel ein Aufforderungsschreiben wegen „Vertragsverletzung Nr. 2015/2073 – zu Händen „Seiner Exzellenz Herrn Frank-Walter Steinmeier – Bundesminister des Auswärtigen“ und drohte wegen der andauernden Überschreitung der Stickoxid-Grenzwerte mit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens. Eine „Verzögerung von 10 Jahren oder mehr“ sei ein „ausreichendes Indiz“ dafür, dass Deutschland „keine geeigneten Maßnahmen getroffen hat, um den Zeitraum der Nichteinhaltung so kurz wie möglich zu halten.“ Welches der betroffenen Gebiete dabei auf Seite 15 des Schreibens als Ziffer „DEZJXX006A“ aufgeführt wird, ist Essen. Abgestempelt als Umweltsünder über das Jahrzehnt hinaus.
Der blaue Brief aus Brüssel wird an die jeweiligen Landesregierungen weitergeleitet, also auch an die NRW-Staatskanzlei, dann an die Düsseldorfer Bezirksregierung, die beim Luftreinhalteplan für das Ruhrgebiet die Feder in der Hand hält, und wird letztlich in Essen auf den Tisch der Umweltdezernentin Simone Raskob flattern. Was der Brüsseler Kommission insgesamt geantwortet wird, ist noch unklar. Bloß viel Zeit dafür bleibt nicht. Mitte August läuft die Frist dafür ab.
Die Zahlen, die Brüssel so beklagt, wird jedenfalls hier keiner schön schreiben können. Danach ist im vergangenen Jahr an sechs von zehn Essener Messstellen der NO2-Grenzwert von 40 Mikrogramm deutlich überschritten worden; Hombrucher Straße (56 Mikrogramm), Alfredstraße (54), Frohnhausen (52), , Krayer Straße (46), Gladbecker Straße (45), Brückstraße (44).
Dicke Luft – was nun? Umweltdezernentin Simone Raskob forderte vor Monaten eine „schnellstmögliche Erneuerung der Fahrzeugflotte“, weil der Autoverkehr der Hauptverursacher für die zu hohen Stickoxid-Belastung sei. Die verschärfte Abgasnorm Euro 6 für Neufahrzeuge werde die Emissionen deutlich senken – aber – so ihre eigene Einschätzung – erst in zehn Jahren das gewünschte Ziel erreichen.
Genau das ist der Hauptkritikpunkt des Bundes für Umwelt- und Naturschutz (Bund). Es dauert alles zu lange. Man hatte zu sehr auf neue Filter und bessere Motoren gesetzt, kritisierte Landessprecher Dirk Jansen. Auch reiche es nicht, lediglich für den öffentlichen Nahverkehr und den Umstieg aufs Fahrrad zu werben, ohne den Autoverkehr abzubremsen. „Jetzt brauchen wir eine kurzfristige Lösung. Es helfen nur noch radikale Schutzmaßnahmen. Ich sehe keine andere Option“, erklärt Dirk Jansen.
Er fordert, Stadtviertel mit hohen Stickoxid-Konzentrationen für Dieselfahrzeuge generell zu sperren. In Essen wären das mehrere Innenstadtviertel etwa rund um die Alfred- und Hombrucher Straße. Jansen: „Wir müssen bestimmte Belastungsgebiete vom Dieselauto-Verkehr befreien.“
Zwar dürfen seit Sommer vergangenen Jahres eh’ nur noch Dieselautos mit grüner Plakette in der Essener Umweltzone fahren. Aber auch für die sollte hier und da ein Fahrverbot ausgesprochen werden, so wollen es die Umweltschützer vom Bund. Weil auch der modifizierte Luftreinhalteplan noch nicht zum gewünschten Erfolg geführt hat.
Die für diesen Plan zuständige Bezirksregierung in Düsseldorf weist darauf hin, dass „einige lokale Maßnahmen im Luftreinhalteplan Ruhrgebiet 2011, Teilplan West“, welche sich auf die Stadt Essen beziehen, entweder „bereits umgesetzt“ seien oder „sich in der Umsetzung befinden“. Dass das Ziel aber nicht erreicht wurde, räumt die Bezirksregierung sofort ein: „Die bisherigen Maßnahmen reichen nicht aus, um die NO2-Grenzwerte einzuhalten“, heißt es auf Anfrage der NRZ.
Und nun? Der Luftreinhalteplan werde fortgeschrieben, so Sprecherin Stefanie Klockhaus. Während des „Prozesses sind sowohl neue Maßnahmen zu formulieren, ebenso wie bereits bestehende Maßnahmen weiterentwickelt werden müssen“, so die Bezirksregierung.
Ob sich Brüssel damit zufrieden gibt, bleibt abzuwarten.