Essen. . Bevor sich die Stadt daran macht, den neuen Nahverkehrsplan zu erarbeiten, fordert sie jetzt eine Budget-Zusage der Politik: „Wir wollen nicht für den Mülleimer planen“

Wer diese 351-Seiten-Schwarte intus hat, der kennt sich aus im Essener Nahverkehr: Der weiß alles über „halbringförmige Tangentiallinien“ und Verknüpfungspunkte zweiter Ordnung, der kann herbeten, an wie vielen Straßenbahn-Haltestellen stadtweit der Ausstieg auf einer Verkehrsinsel erfolgt, er kennt die Einstiegshöhe des „M-Wagen ZGT8 mit Klapptritt“, vermag die Busse zu benennen, die eine Absenkanlage aufbieten, und weiß – getrennt nach Stadtbezirken –, wie viele Wege der gemeine Bürger so am Tag zurücklegt.

Und wenn er auf Seite 83 über die Nahverkehrs-Begeisterung der Münchner gestaunt, auf Seite 125 über die Erschließungsdefizite von Bredeney oder Katernberg geseufzt und auf Seite 193 das Platzangebot eines Gelenkbusses mit dem der Stadtbahn in Doppeltraktion verglichen hat, dann kommt irgendwann hinter Seite 320 die Sache mit dem Geld.

Und hier wurde schon vor sieben Jahren unmissverständlich schwarz auf weiß dokumentiert, dass die finanziellen Aussichten für den Nahverkehr zwischen Karnap und Kettwig nicht eben rosig aussehen, dass man sich was wird einfallen lassen müssen, denn: „Es kann davon ausgegangen werden, dass die zur Verfügung stehenden öffentlichen Finanzmittel langfristig erkennbar zurückgehen...“

Dass die Evag ein paar Jahre später aus lauter Finanznot befristete Busfahrer-Jobs auslaufen lässt, dass sie das hauseigene Ticket in Frage stellt und Allbau wie Stadtwerke aushelfen müssen, damit die Fahrer ihr Gehalt pünktlich bekommen, weil es der städtischen Konzern-Holding EVV genau dafür an Geld mangelt – das stand da im mehrfach fortgeschriebenen „Nahverkehrsplan der Stadt Essen 2008 - 2012“ natürlich nicht.

Aber so ist die Lage derzeit, und deshalb fragt man sich bei der Stadt, ob man den nächsten Nahverkehrsplan nicht irgendwie anders angehen muss. „Wir beabsichtigen, den Rat der Stadt zu fragen, wie hoch der Einsatz sein darf, den die Stadt für den öffentlichen Personen-Nahverkehr aufwenden kann“, sagt Ronald Graf, in dessen Amt für Stadtplanung und Bauordnung auch die „generelle Verkehrsplanung“ angesiedelt ist.

Der ist es aufgegeben, mit der Steuerungsgruppe für den Nahverkehr und auswärtigen Experten aus Kassel und Aachen einen neuen Nahverkehrsplan auszuarbeiten, der festlegt, welche Verkehrsleistung die Stadt bei der Evag bestellt: „Wir wollen nicht für den Mülleimer planen.“

Der Politik gäbe das Gelegenheit, den bisherigen Beteuerungen für ein dichtes Bus- und Bahn-Netz auch finanzielle Zusagen folgen zu lassen. Denn mit den Planungen, die im Frühjahr 2016 in einen Ratsbeschluss münden sollen, steht man am Scheideweg: Will man den Anteil von Bus und Bahn am Gesamtverkehr („Modal Split“) spürbar steigern, so wie dies unter anderem bei der Bewerbung als „Grüne Hauptstadt Europas“ beteuert wird? Dann wäre das mit einer deutlichen Erhöhung der Kosten verbunden.

Oder soll der Anteil „nur“ gehalten werden? Dann käme ein Finanzierungsdeckel („Plafonierung“) in Frage, bei der man gut nachgefragte Linien stärkt, indem gleichzeitig nachfrageschwache Verbindungen zur Gegenfinanzierung herhalten. Möglich auch, dass die Politik Kürzungen beschließt – dann aber gäbe es Einbußen.

Die Politik hat die Wahl: Willigt sie im Juni ein, ihr Ticket zu lösen, erzählt ihr die Evag, wie weit man damit kommt.