Essen. . Am Uni-Klinikum hat man einen speziellen Trainingsanzug angeschafft. Studenten sollen erleben, wie es sich anfühlt, wenn man dick ist. Ein Selbsttest.

Es gibt Patienten im Krankenhaus, für die reicht ein normales Bett nicht aus. Ein normales Bett trägt Menschen bis zu 175 Kilo Körpergewicht. Diese Patienten brauchen auch eine Personenwaage, die mehr als 180 Kilo aushalten kann. Rita Eberl, Pflege-Expertin im Uni-Klinikum, erinnert sich an eine Patientin der Frauenklinik: „Die wog fast 400 Kilo.“ Adipositas – extremes Übergewicht – stellt eine Klinik vor völlig neue Herausforderungen.

Es sind nicht nur breitere Rollstühle, die nötig werden, oder stabilere Operationstische, es ist vor allem die Kommunikation: Damit Medizinstudenten lernen, wie man sinnvoll mit Adipositas-Patienten spricht, hat man an der Medizinischen Fakultät jetzt einen Simulations-Anzug angeschafft.

„Ich esse gar nicht viel“

Martin Spletter legt binnen weniger Minuten 20 Kilo zu - mit dem Adipositas-Anzug des Uni-Klinikums.
Martin Spletter legt binnen weniger Minuten 20 Kilo zu - mit dem Adipositas-Anzug des Uni-Klinikums. © Alexandra Roth / FUNKE Foto Services

Das Reinschlüpfen erfolgt freiwillig – damit kann jeder mal spüren, wie es sich anfühlt, stark übergewichtig zu sein. Obligatorisch hingegen sind die Kommunikationskurse, die künftig vom ersten Semester an jeder Student absolvieren muss: „Man lernt, Patienten, die stark übergewichtig sind, für eine gesündere Lebensweise zu gewinnen“, sagt Stefanie Merse, die das neue Kommunikations-Projekt am Uniklinikum leitet. Ärzte sind übrigens künftig auch dazu verpflichtet, patientengerechter sprechen zu lernen.

Das Klinikum beschäftigt vielfach Schauspielstudenten als so genannte „Simulationspatienten“ – sie schlüpfen künftig in den Adipositas-Anzug und mimen Männer und Frauen, die stark übergewichtig sind, aber das stets als unverrückbares Schicksal abtun: „Ich esse gar nicht viel“, ist ein Satz, den Ärzte oft zu hören bekommen.

Martin Spletter ohne Übergewichts-Anzug.
Martin Spletter ohne Übergewichts-Anzug. © Thomas Gödde / FUNKE Foto Services

Wie fühlt sich Adipositas an? Mit Klettverschlüssen befestige ich eine schwarze Gewichts-Weste. Auch meine Oberschenkel bekommen schwere Nylon-Umschläge mit Gewichten drin, dann schlüpfe ich in einen weichen Wabbel-Anzug, der mich sehr viel dicker macht, und schließlich in die nötige Kleidung: ein kariertes Oberhemd in XXXXXXL und eine beige Männerhose mit sieben X und einem L. Das Anziehen bereitet erste Schwierigkeiten. So viel Textil! Ich finde die Ärmellöcher nicht.

XXL-Rollstuhlmodell mit 76 Zentimetern Breite

Dann der Schock: Meine Schuhe! Ich komme nicht mehr an meine Füße! Ich kann mich nicht bücken wie gewohnt, ich muss mir mit einem meterhohen Schuhanzieher helfen. „Das ist der Grund“, erklärt Stefanie Merse, „warum so viele übergewichtige Patienten Schuhe bevorzugen, in die man nur hineinschlüpfen muss.“

Jetzt stehe ich da, wiege schlagartig 96 statt 76 Kilo, und meine Arme lege ich auf meinen großen Bauch, der plötzlich da ist. Vielleicht strahle ich jetzt diese berühmte Gemütlichkeit aus, die manchen Dicken nachgesagt wird, im Guten wie im Schlechten, aber ich weiß sonst nicht mehr, wohin mit meinen Armen.

Selbsthilfegruppe trifft sich regelmäßig

Rita Eberl vom Uni-Klinik leitet auch eine Selbsthilfegruppe für Adipositas-Betroffene. Die Gruppe trifft sich regelmäßig in Holsterhausen im Uni-Klinikum, immer jeden ersten und dritten Donnerstag im Monat, jeweils um 19 Uhr. Wer Infos möchte oder Kontakt sucht, mailt an rita.eberl@uk-essen.de.

Von Adipositas spricht man, wenn der Body-Mass-Index mehr als 30 beträgt. Der Body-Mass-Index beschreibt das Verhältnis von Gewicht zu Körperumfang.

Dann gehe ich los. Meine Beine fühlen sich fremd an, sie machen andere Sachen als sonst, es ist dieser Watschelgang, den man bei vielen Übergewichtigen beobachtet, meine Füße fliegen seltsam nach außen. Nach wenigen Minuten möchte ich nicht mehr, will mich setzen. Rita Eberl rollt mir einen normalen Rollstuhl hin: Ich zwänge mich mühsam hinein, besser ist das XXL-Modell mit 76 Zentimetern Breite. Mit dem geht’s. Beim Aufstehen schmerzt meine untere Wirbelsäule. Noch ein völlig neues Gefühl, und das nach nur wenigen Minuten Übergewicht. Ich laufe Treppen hoch, das geht fast noch, aber hinunter? Schrecklich! Es ist, als ob mich von hinten ein Fremder anschiebt, das Gewicht drückt mich nach vorne, ich muss aufpassen, dass ich nicht hinfalle. „Hüpfen Sie mal“, schlägt Stefanie Merse vor. Es geht schlecht. Ich lasse es. Elefanten hüpfen ja auch nicht.

Es geht nicht im Verurteilung

Dabei ist das Thema nicht lustig. Die medizinischen Herausforderungen sind mannigfaltig: „Das fängt bei erhöhten Narkose-Risiken an“, berichtet Uniklinik-Medizinerin Martina Heßbrügge-Bekas, „geht über Herz-Kreislauf-Probleme, Gelenkbelastungen bis zu dermatologischen Schwierigkeiten.“ Nahezu jede medizinische Fachabteilung sei für Adipositas-Patienten zuständig. Dermatologie – was hat denn Übergewicht mit Hautproblemen zu tun? Heßbrügge-Bekas: „Bei starkem Übergewicht kommt man beim Waschen nicht mehr in jede Hautfalte. Am Ende führt das zu Exzemen und Entzündungen.“

Mit ihrem neuen Kommunikations-Programm will die Uni-Klinik den Adipositas-Patienten besser helfen. Dabei geht es nicht darum, Menschen zu verurteilen: „Vor einer Behandlung steht selbstverständlich die sorgfältige Diagnose“, sagt Heßbrügge-Bekas. „Auch genetische oder andere Ursachen werden berücksichtigt.“

Nach 20 Minuten ziehe ich die riesigen Textilien, den weichen Anzug und die Körpergewichte wieder aus. Was folgt, ist eine Erleichterung – im Wortsinn.