Kettwig.

Es ist kalt. Und regnerisch. Nass glänzt das Kopfsteinpflaster auf der Hauptstraße, in den Pfützen spiegelt sich das gelbe Licht der Laternen. Kaum ein Mensch ist auf der schönsten Straße Kettwigs unterwegs, als sich Nachtwächter Armin Rahmann am Märchenbrunnen aufbaut. „Hört ihr Leut’, die Uhr hat acht geschlagen“, ruft er der Gruppe zu, die sich um ihn versammelt hat. 30 sind es, die sich heute abend auch vom schlechten Wetter nicht von einem nächtlichen Rundgang abhalten lassen. Ihr Nachtwächter Armin Rahmann, angetan mit klassischem Umhang, Hellebarde und Hut, ist ein Geschichtenerzähler par ex­cel­lence. Der gebürtige Kettwiger kennt jeden Stein, jedes Haus, jede Familiengeschichte in seinem Stadtteil, der für ihn zweifelsohne der schönste in Essen ist.

Handgefertigter Umhang

Seit 2004 ist er mit seiner Laterne unterwegs, gerne auch für private Zwecke. „Ich werde oft für Geburtstagsfeiern gebucht“, erzählt der 77-Jährige, dem die Touren nach wie vor großen Spaß machen. Die Idee dafür entstand im „Heimat- und Verkehrsverein Kettwig“, dem Rahmann bereits seit 40 Jahren angehört. So ließ er sich vor elf Jahren in einem Seminar zum Nachtwächter bzw. Stadtführer ausbilden und ist seitdem sommers wie winters unterwegs. Und seit 2008 ist er stolzes Mitglied in der „Deutsche Gilde der Nachtwächter, Türmer und Figuren e.V.“ wie sein goldgesticktes Emblem am schwarzem Umhang zeigt. „Den habe ich mir nach alten Fotos von einem Schneider anfertigen lassen“, sagt Rahmann und breitet seine Arme aus. Praktisch sei er nicht, dafür „aber stilecht“.

Sein Revier an diesem Abend ist die Altstadt, die in ihrer Geschlossenheit einzigartig in Essen ist. Erster Halt ist die evangelische Kirche, die 1250 erstmals urkundlich erwähnt wurde und auf dem höchsten Punkt der Altstadt steht.

Viel kann er zu deren Geschichte erzählen, beantwortet alle Fragen der neugierigen Teilnehmer. So erfährt man, dass der Turm nicht nur der älteste Teil der Kirche sondern ganz Kettwigs ist (der untere Teil stammt vom Anfang des 13. Jahrhunderts und der obere vom Ende des 13. Jahrhunderts) und in früheren Zeiten auch als Verteidigungsturm diente – noch heute gut erkennbar an den Schießscharten.

Rund um die Kirche verläuft der Kirchhöfnerring, der heute Martin-Luther-Platz heißt. Die geschlossene Reiher der Fachwerkhäuser, von denen die meisten schon seit 200 Jahren hier stehen, vermitteln eine Idylle, die so anheimelnd wie schön ist. Warm scheint das Licht aus den verstrebten Fenstern – Kettwig hat zwar an manchen Stellen einen fast musealen Charakter, doch das täuscht. Die perfekt renovierten Fachwerkhäuser sind bis heute allesamt bewohnt. „Da könnte man schon etwas neidisch werden“, sagt ein Teilnehmer beim Blick auf das größte und schönste Haus an der Kirche. Hier lebte einst eine der reichsten und bekanntesten Kettwiger Familien: die Tuchmacherdynastie Scheidt. Auch zu ihnen kann Armin Rahmann viel erzählen, launige Anekdoten aus den Jahrhunderten sind schließlich ein Steckenpferd.

Weiter geht es zur berühmten Kirchtreppe, zur Ruhrstraße und zur katholischen Kirche. Knapp zwei Stunden sind wir unterwegs, dann wird es Zeit für die Einkehr. Denn zum Nachtwächtergang mit Armin Rahmann gehört immer ein kulinarischer Ausklang in einem der vielen Restaurants, Bistros und Kneipen Kettwigs.