Die Klagen der Essener Wirtschaft über das neue Mindestlohngesetz werden lauter. „Viele Ausführungsbestimmungen sind nicht zu Ende gedacht. Das verunsichert die Unternehmen“, kritisierte gestern Jutta Kruft-Lohrengel, Präsidentin Industrie- und Handelskammer (IHK) Essen bei der Vorstellung des aktuellen Konjunkturlageberichtes für Essen und das Ruhrgebiet. Auch die Aufzeichnungs- und Dokumentationspflichten lassen so manchen Unternehmer vor allem in kleinen und mittleren Firmen verzweifeln, meint die IHK. „Das ist ein ganz enormer Aufwand. Das belastet“, unterstrich IHK-Hauptgeschäftsführer Gerald Püchel.

Ein ähnliches Stimmungsbild zeichnete sich gestern beim Themenfrühstück ab, bei dem der Essener Unternehmensverband (EUV) seine Mitglieder über die neuen Pflichten zum Mindestlohn informierte. Der Tenor: In den Chefetagen grassiert vor allem die Angst, Fehler zu machen und ein hohes Bußgeld zu riskieren. „Ich lasse mir jetzt sogar von der Putzfrau deren geleistete Stunden mit den genauen Dienstzeiten gegenzeichnen“, meinte ein Geschäftsführer eines kleinen Dienstleistungsbetriebes. Unternehmen mussten zwar schon bislang Arbeitszeiten dokumentieren, allerdings nicht binnen sieben Tagen nach Erbringung der Leistung und auch nicht mit den genauen Dienstzeiten.

Außerdem kursiert zwischen den Unternehmen derzeit jede Menge Schriftverkehr. Auftraggeber fordern von ihren Subunternehmen und Werkauftragsnehmern Erklärungen, dass die sich an die Mindestlohnregelungen halten. Der Grund: Die Unternehmen wollen sich so von der Haftung ausschließen. Püchel von der IHK sagte dazu jedoch: „Keiner weiß, ob dieser Persilschein ausreicht.“

Beim EUV-Themenfrühstück sagte eine Vertreterin eines großen Essener Industrieunternehmens, dass man dort vor allem Sorge habe, ob sich die beauftragten Logistikunternehmen an den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro halten – unabhängig von der Diskussion, ob auch ausländischen Fahrern der Mindestlohn zusteht, wenn sie in Deutschland unterwegs sind.

Weitere große Probleme bereiten den Unternehmen die Praktikanten. Vielen Firmen sind die Regelungen zu schwammig, um selbst die Frage klären zu können, wann Praktikanten unter die Mindestlohnregelung fallen. Das Thema beschäftigt selbst große Essener Konzerne. „Ich befürchte, dass viele Unternehmen künftig deshalb weniger Praktikumsplätze anbieten werden“, meinte EUV-Hauptgeschäftsführer Ulrich Kanders.

Unabhängig vom Mindestlohn, der den Unternehmen derzeit auf den Nägeln brennt, ist die Stimmung in der Essener Wirtschaft derzeit recht gut, wie das aktuelle Konjunkturbarometer der IHK (siehe Grafik) zeigt. Die große Mehrheit der befragten Unternehmen schätzt die aktuelle Lage als gut oder befriedigend ein. Bei den Geschäftsaussichten für das kommende halbe Jahr zeigen sich die Unternehmen jedoch etwas vorsichtiger in ihrer Bewertung. Politische Krisen im Ausland, offene Fragen zur Energiewende oder eben neue Bürokratie-Kosten durch den Mindestlohn sind einige der Ursachen, die die IHK dafür ausgemacht hat. Die Folge: Die Essener Firmen treten bei den Investitionen und Neueinstellungen auf die Bremse.