Für Menschen, die nicht sehen können, bedeutet der großflächige Bahnhofsumbau nicht weniger als den vorübergehenden Verlust ihrer Selbstständigkeit: Vertraute Orientierungsmarken sind unverzichtbar

SCHWERPUNKT LEBEN MIT BLINDHEITAuf "Choice", den schwarzen Labrador, kann sich die blinde Britta Dohrn in fast allen Lebenslagen verlassen. Wenn sie dieser Tage allerdings den Essener Hauptbahnhof ansteuert, ruft sie zuvor lieber die Bahnhofsmission an. Innerhalb von 15 Minuten sei ein Helfer zur Stelle und navigiere sie durch das Chaos, das der großflächige Umbau der Station seit Wochen mit sich bringt, berichtet Dohrn. "Die kennen mich dort schon und helfen immer", lobt sie.

Gleisänderungen, vernagelte Eingänge, neue Laufwege, überlaute Lautsprecher-Durchsagen - der Umbau des Hauptbahnhofs stürzt zuweilen auch Pendler mit voller Sehkraft in große Orientierungslosigkeit. Für Blinde sei es der blanke "Horror", sagt Robert Leffler, zweiter Vorsitzender des Blindenhilfsvereins Essen und Vorsitzender der lokalen Blindenvereinigung. Ein so komplexes Gebäudeensemble wie einen Hauptbahnhof müsse man sich mühsam erschließen, um allein zurecht zu kommen. Wenn der neue Bahnhof fertig werde, sei vor der ersten Zugfahrt ein persönliches Mobilitätstraining angeraten.

Ohne Orientierungsmarken und Bewegungsroutinen wandelt ein Blinder in einem Bahnhof auf gefährlichem Terrain. Der alte Essener Hauptbahnhof war ohne Rolltreppen und Bahnsteig-Aufzüge nicht nur arg behindertenunfreundlich, er war auch für Blinde schwer zu nutzen. Moderne Rillenplatten und Aufmerksamkeitsfelder, die sich per Kugelstock abtasten lassen - Fehlanzeige. "Nur mit Erfahrung" habe man es hinbekommen, nicht auf die Gleise oder die Treppe hinunter zu fallen, spöttelt Leffler.

Nun soll alles anders werden. Die Blinden-Vereinigungen sind in verschiedenen Arbeitsgruppen an den Planungen für den neuen Hauptbahnhof vertreten gewesen. Der gute Wille sei da, lobt Leffler, wie überhaupt inzwischen bei vielen Großprojekten die Belange von Blinden und Behinderten stärker berücksichtigt würden. "Das war früher nicht selbstverständlich."

So ganz trauen die Blinden den Planern und Bauarbeitern offenbar aber doch noch nicht über den Weg. Als jüngst ein erster Teil des Bahnhofs kurz vor der Fertigstellung war, prüften sie heimlich die Anordnung der neuen Orientierungsplatten im Boden. Und tatsächlich waren einige so verlegt worden, dass sie ihre helfende Wirkung verfehlt hätten. "Das kann ja immer passieren", sagt Leffler verständnisvoll. Die Platten wurden umgehend neu verlegt und sollen demnächst ihren Dienst tun - wenn sich Blinde wieder ohne Begleitung in den Großbereich Essen Hauptbahnhof trauen können.