Duisburg-Rheinhausen. . Der Politikwissenschaftler Rainer Spallek hat nach einem Aufruf in der NRZ/WAZ Gespräche mit Menschen über das Schicksal der Rheinhauser Juden geführt. Er erfuhr bisher Unbekanntes und sehr viel Dramatisches

Seit Mitte November berichtet die NRZ/WAZ von einem Forschungsprojekt zum Schicksal Rheinhauser Juden in der NS-Zeit. Der aus Friemersheim stammende Politikwissenschaftler Rainer Spallek will mehr Licht in das Dunkel der damaligen Zeit bringen. Dazu verhalfen ihm unter anderem auch zwölf Anrufe unserer Leser. Sie stellten ihm ihre Erinnerungen und auch einige Dokumente zur Verfügung. Rainer Spallek hat das sehr umfangreiche Material geordnet und zusammengefasst.

„Ich erinnere mich an eine Atmosphäre der Geheimnistuerei in unserer Wohnung in der Franz-Wieder-Straße“, erzählt Annerose Micharek. Sie war gerade mal vier Jahre alt, als Mutter und Oma sich unterhielten und ihr ein „Pssst Röschen!“ zuzischten, wenn sie plötzlich dazukam. „Da muss es um die Juden gegangen sein, das hat sich tief in mir eingegraben.“ Was diese Kindheitserinnerungen betrifft, ist ihr Mann skeptisch. Sie aber glaubt sogar, dass oben im Speicher sich auch einmal einige Juden versteckt hielten: „Ich muss es von Oma oder Mutter gehört haben, sonst hätte ich doch nie so oft davon erzählt!“ Solche Erinnerungen, von Nebeln umwölkt, sind nicht selten. Auch wenn mit ihnen vorsichtig umzugehen ist, so beschreiben sie doch sehr gut die Angst, die tatsächlich Einzug hielt in die Wohnungen und Köpfe der Menschen damals.

Konkreter erinnert sich die 1927 geborene Annelore Kirschning, die damals in der Brückenstraße wohnte und die Horst-Wessel-Schule in der Krefelder Straße besuchte. Dort tauchte einmal ein Mann in Uniform auf und schärfte den Schülern ein, wie sie sich in der Öffentlichkeit gegenüber Juden zu verhalten hätten. Diese hätten den Kindern auszuweichen, nicht umgekehrt. „So richtig ernst haben wir das aber nicht genommen“, meint Kirschning.

Einkaufen „beim Juden“

Dann erzählt sie von öffentlichen Schaukästen. Darin war zu lesen: „Diese Leute kauften bei Juden!...“. Als sie mit zehn Jahren ihren ersten Hut im Kaufhaus Wallach kaufte, da wurde sie von einem SA-Mann fotografiert. Dieses Foto wurde mit denen anderer, die ebenfalls “beim Juden“ einkauften, öffentlich ausgehängt.

Ihr Vater arbeitete damals bei der Hütte. Mit ihm zusammen am Hochofen ein jüdischer Kollege, Herr Daniel. Ihn lud der Vater einmal nach Hause ein. „Als er in unsere Wohnung kam hat er mit der Hand den Judenstern abgedeckt. ´Lass das doch!´, sagte mein Vater und Herr Daniel meinte:´Wir dürfen ihn auch gar nicht verstecken.´“ In der Tat war es gefährlich, ohne Judenstern erwischt zu werden.

Nahe am Rheinhauser Marktplatz in der Hochemmericher Straße 58 lebte der Schuhmacher Leo Goldmann, dort hatte er auch sein Geschäft. Franz Kapala, geboren 1924: „Goldmann musste später sein Geschäft schließen, nachdem im April 1933 die Nazis zum Boykott aller jüdischen Geschäfte aufriefen.“ Doch halfen Kapalas Vater und Onkel dem in die existenzielle Enge Getriebenen: Sie besorgten ihm Material und verkauften für ihn „Hunderte wunderbarer Pantoffeln, die Goldmann weiterhin heimlich und kunstvoll herstellte.“

Das ging eine Weile so, doch dann mussten Goldmanns Einrichtungsgegenstände verkauft werden: Die Furcht führte 1937 zur Flucht in die USA: dafür brauchte er das Geld. 1939 bekamen Kapalas Post aus den USA: Goldmann bedankte sich sehr herzlich für die Hilfe. Kapala: „Was hat er sich dabei gedacht?! Das war gefährlich: Der Brief war geöffnet worden! Glück gehabt: der, der ihn öffnete kann kein Nazi gewesen sein, denn sonst ...“

Carl-Heinz Meyer, geboren 1927 an der Friemersheimer Bachstraße, hat sehr bewusst die Menschen in seiner Umgebung wahrgenommen, die der Propaganda der Nationalsozialisten allzu schnell Folge leisteten. „Es ging alles so schnell. Die Presse, der Rundfunk verteufelten die Juden. Die braunen Horden schrien ´Juden raus!´, es gab kein Kontra, auch die Kirche schwieg.“ Meyer ist ein gläubiger Mensch, da ist er sehr sensibel: „Wir, die sonntags zur Kirche gingen und das Evangelium hörten: ´Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!´ - hatten wir vergessen, dass Jesus auch Jude war?!“

Briefkontakt mit dem Botschafter

Er hatte eine sehr mutige Mutter, die bewusst „beim Juden“ einkaufte, ihnen half, wo es nur ging. Oft gab sie NS-kritische Sätze von sich, die ihrem Mann die Haare zu Berge stehen ließen. Und da sie das Propagandagerede hasste, allen voran Goebbels, hatte man bei Meyers auch keinen Volksempfänger. 1965 schickte der Staat Israel seinen ersten Botschafter nach Bonn: Asher Ben-Natan. Zwischen ihm und Meyers Mutter entwickelte sich ein reger Briefkontakt. Er muss sie sehr geschätzt haben, schickte er ihr doch ein Foto von ihm mit persönlicher Widmung. Leider ist kein Brief mehr vorhanden. Meyer meint, dass seine Mutter es nicht fassen konnte, dass nach dem Krieg immer noch ehemalige Nazi-Größen in der Bundespolitik eine wichtige Rolle spielten...

Das Kaufhaus Wallach

Die 1922 geborene Marianne Bloch (Name geändert) erinnert sich noch sehr genau an ihre Busfahrt von Rheinhausen nach Duisburg am Tage nach der „Reichskristallnacht“ vom 9. November 1938. „Im Bus herrschte eine gedrückte Stimmung.“ Vor allem das zertrümmerte Kaufhaus des Juden Philipp Wallach an der Ecke Atroper Straße/Annastraße hatte sie entsetzt. Wallach war ein sehr geschätzter Mensch, höflich und hilfsbereit. Rheinhauser SA-Leute hatten sich geweigert, das Kaufhaus zu demolieren, das übernahmen dann die Kollegen aus Duisburg.

Frau Bloch fuhr mit dem Bus zu ihrem Ausbildungsplatz nach Duisburg. Kaum ausgestiegen sah sie dort in der Münzstraße eine Kolonne von jüngeren und älteren Männern, die von Uniformierten mit ihren Stöcken durch die Straße getrieben wurden: „Es waren Juden.“ Wie so viele andere hatte auch sie Angst, versuchte sich unsichtbar zu machen, schlich an der Hauswand vorbei. Im Geschäft angekommen wurde erregt mit gedämpften Stimmen über das Gesehene gesprochen.

Niemand wagte es öffentlich zu protestieren. Mit der Pogromnacht testete das NS-Regime die Zivilcourage der nichtjüdische Bevölkerung. Ihr Schweigen signalisierte dem Terrorregime: Bahn frei für die „Endlösung der Judenfrage“! So verlor auch Philipp Wallach sein Leben: Er floh 1939 nach Aachen, in dessen Nähe er geboren wurde. Von dort wurde er vier Jahre später nach Auschwitz deportiert und am 8. August 1943 im KZ getötet.

Kontakt zum Autor:
Wer weitere
Hinweise zum Schicksal der Juden in Rheinhausen geben möchte, meldet sich bei Rainer Spallek, Gneisenaustraße 282, 47057 Duisburg, E-Mail: info@lernen-und-leben.de, 0203/2896948.
Kontaktaufnahme ist
auch über die Redaktion möglich, E-Mail: lok.rheinhausen@nrzwaz.de, 02065/306921.