Bildung, Bildung, Bildung! Eines der wichtigsten Zukunftsthemen, finden die meisten Deutschen, da sind sich selbst Parteien völlig einig. Doch wenn man dafür auf die Straße geht, kann es leicht unangenehm werden. Die Rheinhauser Politik-Studentin Duygu Cakir kann ein Lied davon singen.
Als die 23-Jährige am 17. November 2009 gemeinsam mit 8000 Studenten und Schülern in der Essener Innenstadt für mehr Lehrer, kleinere Klassen und gegen Studiengebühren demonstrierte, wurde sie zusammen mit 155 jungen Leuten eingekesselt, festgenommen und rund zwei Stunden festgehalten, bis die Essener Polizei die Personalien festgestellt hatte. Die Polizeiaktion machte später als „Essener Kinderkessel“ von sich reden.
Einige Monate später flatterte Duygu Cakir ein Bußgeldbescheid über 98 Euro ins Haus, wegen einer „Ordnungswidrigkeit“. Die junge Frau wehrte sich dagegen, legte Einspruch ein — und bekam jetzt vor dem Essener Landgericht recht: Das Verfahren wurde rechtskräftig eingestellt, ohne Gebühren. Es war die erste Verhandlung
Was war geschehen? Rund 8000 junge Leute waren im November der Aufforderung zahlreicher Schüler- und Studentenvertretungen in ganz NRW gefolgt, und zogen für bessere Rahmenbedingungen im Bildungswesen vom Campus ins Zentrum. Die dortige Abschlusskundgebung war zwar angemeldet, wurde aber wegen der überraschend großen Teilnehmerzahl von den Veranstaltern abgesagt.
Wer jünger als 16
war, durfte nach Hause
Während sich der größte Teil der friedlichen Demo daraufhin auflöste und abzog, entschlossen sich etwa 800 Personen zu einer Spontankundgebung. „Für uns ging die Demonstration weiter. Das war alles sehr spontan. Ich bin einfach der Menge gefolgt“, erzählt die Rheinhauserin.
Die jungen Leute zogen friedlich zum Porscheplatz in der Nähe des Rathauses. „In der Fußgängerzone am City Center erwarteten uns mehrere Hundertschaften Polizei“, schildert Duygu Cakir ihre Eindrücke. Andere Teilnehmer filmten die Protestaktion per Handy, stellten sie ins Internet. „Die Polizei forderte uns mehrmals per Lautsprecher auf, die Demonstration zu beenden und die Wege zu räumen. Danach verließen rund 400 den Demonstrationszug.“ Die übrigen rund 400 Studenten und Schüler, teilweise unter 14 Jahren , kesselte eine Hundertschaft ein. „Wir waren richtig umzingelt. Dennoch blieben wir weiter absolut friedlich und haben in keiner Weise provoziert. Im Gegenteil: Wir waren sehr erschrocken und ängstlich, besonders die Schüler“, erzählt Duygu Cakir. „Doch viele der zumeist jungen Polizisten wirkten auf mich überfordert und aggressiv.“
Die meisten Schüler, die nachweisen konnten , dass sie jünger als 16 waren, durften nach Hause fahren. Am Ende blieben 35 Schüler und 121 Studenten im Kessel zurück, darunter die Rheinhauserin. „Die Polizisten zogen uns einzeln aus der eingepferchten Menschenmenge und führten uns in Gruppen von drei bis vier Personen ab. Wir wurden in Mannschaftswagen und Linienbussen abgeführt.“ Die Polizei stellte die Personalien aller Demonstranten auf einer Essener Wache fest. Wo genau, kann Cakir heute nicht mehr sagen: „Wir waren alle sehr aufgeregt. Und alles ging so schnell!“
Anfang des Jahres erhielt die Rheinhauserin dann den Bußgeldbescheid. Begründung der Ordnungswidrigkeit: Sie hätten den Platz trotz mehrmaliger Aufforderung nicht verlassen. „Die Schüler und die meisten Kommilitonen beugten sich den unverhältnismäßigen Bußgeldern, da sie aus finanziellen Gründen nicht dagegen klagen konnten oder wollten. Dagegen haben ich und 34 weitere Demonstranten auf unserem verfassungsmäßigen Recht auf Versammlungsfreiheit gepocht und sofort Einspruch eingelegt.“ So kam es jetzt zur Verhandlung vor dem Essener Landgericht, der erste von insgesamt 35 Prozessen in Sachen „Essener Kinderkessel“.
Polizei hätte erst
verhandeln müssen
Die Studentin konnte ihre Aussagen mit Videoaufnahmen bekräftigen, die Richterin schloss sich weitgehend der Argumentation der Klägerin an. Die Spontandemo nach der angemeldeten Kundgebung sei rechtlich zulässig. Die Polizei hätte zunächst mit Sprechern und Ordnern verhandeln müssen, um die Spontandemo zu beenden, statt die jungen Leute einzukesseln, festzuhalten und abzuführen.
Duygu Cakir hat Recht bekommen und 98 Euro gespart. Die Summe kann die 23-jährige Tochter eines türkischstämmigen Bergarbeiters gut gebrauchen. Auch fürs Wintersemester muss sie wieder 480 Euro Studiengebühren an die Uni Duisburg-Essen zahlen. Sie ist ehrgeizig, will den beruflichen Aufstieg schaffen, als Politikwissenschaftlerin. Und so liegt ihr am Herzen, was Politiker ständig einfordern: Bildung, Bildung, Bildung!