Duisburg-Rheinhausen. . Ein Kind wird für hirntot erklärt und kämpft sich zurück ins Leben. Krankenkasse und Stadt streiten, wer die Inklusion des Mädchens bezahlt.
Wie viel kann Elternliebe aushalten? Güven Aydemir sieht müde aus. Nur eine Stunde hat er nach dem Nachtdienst geschlafen. Der 41-Jährige macht Kaffee. Später muss er seinen Sohn Ediz, den Fünfjährigen, aus der Kita holen. Aber jetzt versucht Güven hellwach zu sein, denn es geht um Elif. „Unsere kleine Prinzessin“, sagt Mama Gülay und verteilt einen Haufen Küsse auf den Wangen des Mädchens. Die Mundwinkel der Dreijährigen formen ein Lächeln. Dann kippt der Kopf nach hinten, die Pupillen rutschen nach oben, die Augen sind weiß.
Elif ist blind. Auch sitzen kann sie nicht. Ein Brustgurt fixiert die Kleine am Stuhl, die Füße mit den rosaroten Söckchen hängen schlaff nach unten. „Seit der Operation vor einer Woche ist alles an ihrem Körper so unheimlich weich“, sagt Papa Güven. Eine Medikamentenpumpe direkt am Rückenmark soll die spastischen Verkrampfungen lindern. Besorgt beugt sich der Vater über das Töchterchen. Sein Bart kitzelt an ihrem Gesicht. Da ist es wieder, das Lächeln „Sie liebt das so sehr.“ Schmusen mit Papa, Küsse von Mama, eine Berührung von Brüderchen Ediz – das ist Elifs Welt.
Die Organe versagten
Gülay Aydemir atmet tief durch. Die 41-Jährige ist eine starke Frau mit viel Willenskraft. Und doch merkt man ihr an, dass sie sich ihre Kraft sehr gut einteilen muss. „Wenn mein Sohn nachher kommt, dann möchte ich lächeln und für ihn da sein“, sagt sie. „Er soll ein ganz normales Leben haben, so wie andere Kinder auch.“
Das ist oft leichter gesagt als getan. Und seit August ist alles noch schwieriger geworden, da die Integrationshelferin, die den Kindergartenbesuch der kranken Tochter ein Jahr lang möglich machte, nicht mehr finanziert wird, weil unklar ist, ob Stadt oder Krankenkasse die Kosten tragen müssen. Für die Eltern ist dadurch ein wichtiger Anker weggebrochen. In einem Alltag, den sich andere nur schwer vorstellen können.
Wer bezahlt die Integrationshilfe?
Seit Elif vor drei Jahren geboren wurde, ist bei den Aydemirs nichts mehr wie vorher. Ein Virus im Mutterleib hat das Baby so krank auf Welt kommen lassen, dass die Ärzte zwei Tage nach der Geburt nicht nur das Versagen sämtlicher Organe, sondern auch den Hirntod feststellten. „Wir sollten entscheiden, ob wir die Geräte abstellen lassen.“ Doch es gab einen Arzt, der ihnen riet, noch abzuwarten. Kurz darauf begann das Kind, die Finger zu bewegen, das Leben kehrte zurück, die Organe arbeiteten wieder. Aber Elifs Gehirn funktioniert seitdem nur zu einem winzigen Bruchteil. Hören kann sie, aber sehen nicht. Sie ist mehrfach schwerstbehindert und niemand kann vorhersagen, wie viele Jahre sie erleben wird.
Im November ist Elif drei Jahre alt geworden. „Wir sind so dankbar, dass wir sie haben. Sie gehört zu uns. Genau so, wie sie ist.“ Das sagen beide Eltern und man spürt die Liebe, die sie empfinden. Aber man spürt auch, wie viel Kraft der Alltag kostet. „Im ersten Jahr war Elif 24 Stunden auf unserem Arm, nachts hat sie höchstens zwei Stunden geschlafen“, erinnert sich Güven. Das Kind war unter anderem deshalb wach, weil es das Schlafhormon Melatonin nicht bilden kann.
In vielen kleinen Schritten haben sie sich an das neue Leben herangetastet. „Es hieß, dass sie nie alleine schlucken wird.“ Doch die Eltern haben das Essen mit Elif geübt, so dass sie ohne Magensonde auskommt. Gülay greift zum Wasserglas. Das Mädchen kann nicht sagen, wenn es Durst hat. Die Eltern träufeln ihr Wasser mit einer Spritze in den Mund. Heute klappt das nicht so gut. Elif macht nicht mit, die Mama klopft ihr unters Kinn. Plötzlich geht es, die Schluckbewegung funktioniert.
„Wir können so vieles schaffen“, sagt Güven und trinkt den letzten Schluck Kaffee aus seiner Tasse. „Aber was uns fertig macht ist, dass wir für jede Unterstützung, die uns doch eigentlich zusteht, so kämpfen müssen.“ Für Auseinandersetzungen mit Behörden sind eigentlich keine Energiereserven mehr da. Und es kommen immer neue Herausforderungen hinzu. Als die Aydemirs im August vergangenen Jahres erfuhren, dass die Stadt die Integrationshilfe für Elifs Kindergartenplatz nach einem Jahr nicht mehr finanziert, zog es ihnen den Boden unter den Füßen weg.
Ratlos, hilflos, wütend, enttäuscht
Seit 2017 konnte Elif mit professioneller Begleitung im Kindergarten betreut werden. Das war für die Eltern eine große Erleichterung und tat dem Mädchen offenbar gut. „Die Reize, die sie dort hat, helfen ihr bei der Entwicklung.“ Diese Beobachtung der Eltern bestätigen wissenschaftliche Studien über die Wirkung von Sozialkontakten auf schwerstbehinderte Kinder. Auf Papier klingt das vielversprechend, bei Familie Aydemir scheitert es an der Bürokratie. Seit sechs Monaten ist Elif nur noch zuhause.
„Hier reden alle von Inklusion und dann passiert sowas“, sagt Gülay Aydemir. Sie ist ratlos, hilflos, wütend, enttäuscht und erschöpft. Dass Elif eine Integrationshilfe zusteht, ist klar. Strittig ist nur, wer bezahlt. Die Stadt sagt, die Krankenkasse müsse zahlen. Die Krankenkasse DAK sagt, die Stadt müsse zahlen. Derweil zahlen nur die Eltern – und zwar den Kindergartenplatz, den sie für ihre Tochter seit August gar nicht nutzen können.
„Mir ist wichtig, dass Duisburg eine inklusive Stadt wird“ – mit diesem Satz wird Oberbürgermeister Sören Link 2017 als Schirmherr des Inklusionstages des MSV zitiert. Wir haben bei ihm angefragt, wie das zum Fall Aydemir passt. Eine Antwort gab es leider nicht.
>>> STREIT UM DIE KOSTEN
Seit August 2018 ist unklar, wer die Kosten für die Integrationshilfe übernimmt, die Elif den Besuch des Kindergartens ermöglicht. Die Stadt hat die Finanzierung nach einem Jahr eingestellt, da es sich aus ihrer Sicht nach erneuter Prüfung um eine „Behandlungssicherungspflege“ handelt. Das ist eine medizinische Pflege, die die Krankenkasse tragen muss. Daher wurde der Folgeantrag der Familie für das Kindergartenjahr 2017/2018 an die DAK weitergeleitet.
Die Krankenkasse hat abgelehnt, da sie nach eigener Prüfung folgender Auffassung ist: „Bei Elif handelt es sich weitgehend um eine Beaufsichtigung des Kindes, die in den Zuständigkeitsbereich des Sozialhilfeträgers, der Stadt Duisburg, fällt.“
Familie Aydemir hat den Fall ihrem Anwalt übergeben. Das Sozialgericht beschäftigt sich nun mit der Frage, ob die Krankenkasse bis zur endgültigen Entscheidung im Eilverfahren verpflichtet wird, die Kosten zu übernehmen.
Die Krankenkasse hingegen schlägt vor, dass die Stadt die Kosten erst mal weiter trägt, bis der Fall entschieden ist. „Wir haben versucht, Kontakt zur Stadt aufzunehmen, um eine schnelle Lösung zu finden“, sagt DAK-Sprecher Rainer Lange. Dort sei man vom Fachbereich an die Arbeitsgruppe, von dort an die Fachgruppenleitung und letztlich an die Pressestelle verwiesen worden. „So können wir uns doch nicht an einen Tisch setzen, wenn das Fachpersonal nicht mit uns reden möchte.“