Die 78-jährige Helga Lommertin hat zwei Kinderlandverschickungen miterlebt, sie floh aus dem Osten und ließ sich schließlich mit ihrer Familie in Duisburg nieder. Und: Sie bereut nichts
Von Claudia Pospieszny
„Die dusseligste Frage, die immer gestellt wird, ist die, ob ich in Berlin Ost oder West geboren bin.” Dabei ist Helga Lommertin heute 78 Jahre alt und mithin lang vor der Teilung der Hauptstadt geboren. „Ich war die älteste von fünf Geschwistern. Damals haben wir in Lichterfelde gewohnt, möbliert.” Geschichten aus dem Krieg, aus ihrer Jugend, „ich kann die Zeit des Krieges gar nicht verdrängen”, sagt sie, „das war damals für uns Kinder mit unglaublich viel Energie verbunden.” Zu den Jungmädels ging Helga Lommertin mit zehn Jahren, „ich musste mit 14 auch nicht in den Bund Deutscher Mädchen wechseln, weil ich Jungmädel-Führerin war.”
Keine politschen Interessen im Jugendalter
Identifikation mit Hitler? „Kaum”, man habe wenig vom Krieg und politischen Strömungen mitbekommen, „wir waren ja noch so jung.” Gesehen habe sie ihn einmal. „Das war beim Führer-Geburtstag im Mai 1939. Er ist mit einem Auto durch das Berliner Olympia-Stadion gefahren worden und wir haben auf der Tribüne gesessen und gejubelt, obwohl uns so kalt war.” Lazarettbesuche hätte ihre Gruppe gemacht, Blumen für geehrte Mütter überreicht. Dann war Schluss mit energiegeladener Jugendbewegung, denn in Berlin habe der Beschuss früh eingesetzt. „Wir hatten in der Hauptstadt oft Alarm. An der Eisenbahnflak in Lichterfelde haben wir damals Granatsplitter eingesammelt und später damit getauscht.”
Bereits im Winter 1939/40 musste die Familie am Abend ihre Wohnung verdunkeln, „und wir hatten Leuchtplaketten an den Jacken, damit wir uns im Dunkeln nicht anrempeln. Die Straßenlaternen gingen ja auch nicht.” Gelitten haben sie zu dieser Zeit kaum, „am Tag haben wir wie immer gespielt. Für uns Kinder war das spannend, ein richtiges Abenteuer, denn wir waren ja nicht politisch.”
Zwei Mal in die Kinderlandverschickung
Doch die Gefahr wuchs. „Wir sind im Frühjahr 1941 zum ersten Mal mit der Schule in die Kinderlandverschickung gekommen.” Im ostpreußischen Heinrichswalde sei es den Kindern gut gegangen, „außer vielleicht, dass wir die Schlafsäcke selber stopfen mussten, weil die noch nicht fertig waren.” Es ging nach Hause im Oktober. Und ein weiteres Mal in die Kinderlandverschickung. „Im März 1943 sind wir nach Bad Luhatschowitz gebracht worden. Das lag in Österreich, direkt an der tschechischen Grenze.” Damals knüpfte das Mädchen aus Berlin erste Kontakte nach Duisburg, „denn diese Unterkunft war für Kinder und Mütter aus Duisburg und Berlin reserviert. Ach, es war herrlich da. Über 100 Mädchen waren in dem Sommer dort.” Zur gleichen Zeit allerdings wurden Helga Lommertins Mutter und ihre Geschwister evakuiert, „die kamen nach Wernigerode im Harz.” Erst nachdem die Mutter einen Antrag gestellt hatte, durfte auch Helga in den Harz reisen. Ganze Hotels und Pensionen dort seien in Lazarette umgewandelt worden. „Im Januar '45 kamen die ersten Flüchtlinge.” Dann kamen die Amerikaner, „jemand ist ihnen mit einer weißen Fahne entgegen gegangen, damit keiner auf uns schoss.” Es folgten die Engländer, nach endgültiger Aufteilung der Gebiete die Russen. „Damals habe ich gegen Deputat in einem Gemüseladen gearbeitet. So ging es unserer Familie sehr gut. Aber wir haben auch ,gemaust' und ,Kartoffeln gestoppelt', damit wir alle satt wurden.”
Später dann „hat die Familien beschlossen, ich solle Hauswirtschafterin werden.” Nach der Ausbildung folgte eine Anstellung im ehemaligen Osten – nach einer unbedachten Äußerung schließlich folgte die Flucht von dort. „Ich bin damals zu Fuß über den Brocken abgehauen. Meine Eltern wohnten zu der Zeit schon in Köln, aber es war sehr schwierig, da eine Anstellung im Haushalt zu finden.” Und schließlich: „In den Anstellungen, die es gab, wurde man nicht gut behandelt.” Also sattelte Helga Lommertin um, wurde Bürohilfe, „ich hatte ja eine gute Allgemeinbildung.”
Was sie mit ihrer Hochzeit im Jahr 1956 wieder aufgab – und nach Duisburg zog. „Ich habe Kinder bekommen, zwei Jungs und ein Mädchen. Da hatte ich mit dem Haushalt genug zu tun.” Erst als die Kinder aus dem Gröbsten raus waren, sei wieder an Arbeit zu denken gewesen. Halbtags zunächst, später als Leiterin einer Fachbibliothek in Hamborn. „Ich habe mich hoch gearbeitet, denn ich hab' das Metier beherrscht. Die Arbeit hat mir immer Spaß gemacht.” Streitereien mit dem damaligen Chef sind heute vergessen. „Jetzt treffen wir uns ein Mal im Jahr und machen ausgedehnte Wandertouren. Durch die Eifel, im Hunsrück und über den Hexenstieg sind wir schon gelaufen.” An Ruhestand sei auch sonst nicht zu denken. „Ich habe vor ein paar Jahren mit Besuchsdiensten im Krankenhaus angefangen, ich leite eine Bingo-Gruppe und ich gehe regelmäßig zum Turnen.”
Auch im Rentenalter noch schwer aktiv
Im Rentenalter ganz so, wie Helga Lommertin es ihr Leben lang gehandhabt hat: „Ich habe mich immer weit zum Fenster rausgelehnt. Es war vielleicht ein anstrengendes Leben, aber auch mit sehr viel Erleben. Ich hab' halt immer intensiv gelebt.”