Trainingsprogramm pro Woche wenigstens 20 Stunden

Momente gibt's, die ändern ein ganzes Leben. Bei Rainer Clasen war das am 6. November 1993. Mit dem Motorrad krachte er zwischen Düsseldorf und Kaiserswerth auf mit dem Motorrad in die Leitplanke. „Ein Klassiker. Ich hatte erst seit wenigen Tagen den Führerschein”, sagt der Großenbaumer. „Warum das passiert ist, weiß ich bis heute nicht.” Zwei Lendenwirbel brachen, ein Arm und viele Rippen, die Milz musste entfernt werden. Nur dank der Protektoren in der Motorrad-Kombi, die er am Unfalltag gekauft hatte, kam er überhaupt mit dem Leben davon.

"Warum das passiert ist, weiß ich bis heute nicht"

„Inkomplette Querschnittslähmung” lautete die niederschmetternde Diagnose der Spezialisten in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik (BGU). Da war noch nicht daran zu denken, dass Rainer Clasen gut 14 Jahre später für ein großes Ziel trainieren würde: 2012 will er bei den Paralympics in London starten – auf dem Rennrad. Viereinhalb Wochen versetzten die Unfallchirurgen Clasen in ein künstliches Koma. An „kreative Träume” erinnert er sich. „Daraus könnte man ein gutes Buch machen.” Mit einem Knochenkeil aus dem Becken hatten die Ärzte die beschädigten Lendenwirbel verbunden, die Wirbelsäule zusätzlich mit einer Platte stabilisiert. Den Umfang seiner Verletzungen zu kennen, das sei zunächst für ihn nicht wichtig gewesen, als er wieder bei Bewusstsein war, erinnert sich der 32-Jährige: „Was geht, ist eigentlich egal. Ich war damit beschäftigt, zu atmen.” Er werde wieder laufen können – das war der beruhigende Teil der Diagnose. „Wann und wie haben sie nicht gesagt.” Wie hart der Weg war, sollte der Großenbaumer bald merken. Viereinhalb Monate verbrachte er in der Klinik, fast weitere acht Monate in der ambulanten Reha. „Endlich mal eine halbe Sache gemacht”, scherzt er heute über seine „inkomplette” Lähmung. Das heißt: Einige Muskelgruppen im Gesäß sowie im Ober- und Unterschenkel gehorchen nicht mehr. „Ich lasse ein paar Muskeln weg beim Gehen und kompensiere das durch andere und mit Schienen”, erklärt Clasen sein Handicap. Erstaunlich: Wer ihn nicht kennt, bemerkt die Einschränkung nicht auf Anhieb.

"Anfangs haben die Fußgänger mich überholt"

Die Fahrrad-Leidenschaft entwickelte sich über die Jahre. „Ich wollte mich nicht immer zur Reha fahren lassen”, sagt er. „Es sah komisch aus”, erinnert er sich an die Anfänge vor zehn Jahren. „Fünf Kilometer hab' ich in einer halben Stunde geschafft. Die Fußgänger haben mich überholt.”

Langsam tastete sich Rainer Clasen heran an längere Strecken. Vierzig bis sechzig Kilometer schaffte er 2005, als er das Rennrad kaufte. „Es war die Belohnung dafür, dass sich schon mehr Kilometer gemacht hatte, als jemals vor meinem Unfall.” Mittlerweile zeigt sein Tacho die jährliche Kilometerleistung eines ambitionierten Hobbyradlers – 7800 Kilometer waren es 2006. Genug allemal, um sich auch mit den meisten gesunden Radlern zu messen. In Uerdingen, wo er für SC Bayer 05 startet, traf er Natalie Simanowski, Radsport-Weltmeisterin der Behinderten. „Du solltest Rennen fahren”, empfahl sie beim Blick auf Clasens Pensum. Beim Bundestrainer habe sie ihn schon „verpetzt”. Auch den Kontakt zu einem Orthopädie-Mechaniker in Münster stellte die Augsburgerin her. Er fertigte Carbon-Schienen, die Fuß und Unterschenkel des Großenbaumers stabilisieren. „Damit zu fahren, ist eine andere Welt”, schwärmt er. Für die Sommer-Spiele in Peking kam Rainer Clasen zu spät – vier Monate lang musste er nach seiner Renn-Premiere 2007 den Renner wegen einer Fußverletzung in die Ecke stellen. Doch entmutigen können ihn solche Rückschläge nicht. „Jetzt geht's richtig los”, hat er zum Jahreswechsel gesagt und London 2012 ins Visier genommen. Pro Woche trainiert er bis zu 20 Stunden für die nächsten Rennen, ein Trainingslager auf Mallorca hat er gerade hinter sich. „Ich muss Punkte sammeln, um mich zu qualifizieren”, sagt Rainer Clasen.