Lehrer und Eltern am Mannesmann-Gymnasium betrachten schwindende Zeitreserven, zunehmende Selektion und neuen Lehrplan kritisch

Einen früheren Start ins Berufsleben und an den Unis wollte das Schulministerium Abiturienten mit der Verkürzung der Schulzeit ermöglichen – nach zwei Jahren in der Praxis zeigt sich jedoch: Durch das „geschenkte” Jahr fehlt Kindern nun tagtäglich Zeit – über einen Zeitraum von acht Jahren. „Man muss den Wirkungsgrad betrachten, statt wie bislang sechs haben die Kinder jetzt schon in der fünften Klasse acht Stunden Schule am Tag.

Wenn sie am Nachmittag nach Hause kommen, sind sie viel fertiger. Dann sind die Hausaufgaben zu erledigen, die proportional zu dem Anstieg an Stunden natürlich auch zunehmen.” Roland Schenkewitz sieht dies mit wachsender Skepsis: „Meine Tochter ist jetzt 13 Jahre alt und hat ein Arbeitspensum, das oft bis 17 oder 18 Uhr geht, und das hat schon im Alter von elf Jahren begonnen. Zunehmend ertappe ich mich dabei, dass ich sie auffordere, mitmir raus zu gehen an die frische Luft, um mal Abstand zu haben vom Schulstress.”

Was sich mit den Beobachtungen des Lehrers Wolfgang Krebs deckt: „Wir sehen auch, dass die Kinder immer weniger Zeit haben, um ihre Freizeit sinnvoll zu füllen, z.B. ein Instrument intensiv zu lernen, auch die AG-Arbeit an der Schule steht machmal auf Messers Schneide, denn den Schülern bleibt nicht mehr genügend Zeit, das zu vereinbaren. Die Schule zieht alle Zeitreserven und Kraftpotenziale ab.” Schenkewitz ergänzt: „Kinder bräuchten wieder mehr Zeit für ihre soziale Struktur, um sich mit Freunden zu treffen, Sport zu treiben und ein Musikinstrument zu lernen.”

Aktivitäten, die zur Ausbildung sozialer Kompetenzen wichtig seien. Doch im durchgängigen Stress bleibe dies auf der Strecke. „Die Kinder sind schon morgens ab der ersten Stunde gestresst, nicht erst am Nachmittag; es ist einfach anstrengend, so eine geballte Ladung Unterricht zu haben. Es gibt ja auch keine entlastenden Tage mehr, an denen weniger unterrichtet wird, sie morgens später kommen oder wesentlich früher gehen könnten.” Hinzu kommen Probleme, die sich aus den neuen Lehrplänen ergeben. „Im Deutschunterricht werden Themen wie z.B. die Grammatik jetzt schon ein Jahr früher unterrichtet”, sagt Krebs, „bedenkt man aber den Grad der Hirnreifung, den persönlichen Entwicklungsstand, sieht man, dass Viele noch nicht so weit sind.

Für die Kinder wird das Lernen schwieriger und für uns das Unterrichten.” Qualitative Unterrichtsverluste, die fächerübergreifend wirkten. „Das setzt sich bei den Fremdsprachen fort. Die Kinder lernen die Grammatik früher, die Strukturen haben sich noch nicht richtig gefestigt, da sollen sie es dann schon in der Fremdsprache anwenden. Das stört sich gegenseitig – in Deutsch und in den Fremdsprachen.

Aber im neuen Lehrplan ist das so vorgesehen, mit dem Argument, dass Englisch jetzt bereits in der Grundschule unterrichtet wird – allerdings ohne gefestigte Strukturen”, beklagt Ute Lamprecht. Die Konsequenz: „Da Vieles im Unterricht nicht mehr verfestigtwird, haben die Schüler nach dem Abi nicht mehr die Studienreife. Unis klagen aber jetzt schon, dass Schüler nach der 13 nicht in der Lage seien, ein naturwissenschaftliches Studium zu bewältigen”, erklärt Walter. Ein Beispiel aus der Oberstufe führt Krebs an: „Es ist jetzt schon teils schwierig, mit den Schülern, die neun Jahre das Gymnasium besuchen, in der Oberstufe anspruchsvolle Werke zu lesen, mit jüngeren Schülern wird das nicht einfacher.

Man sollte nicht vergessen, dass Schule auch die Aufgabe hat, Weltwissen und Weisheit zu vermitteln und den Horizont zu erweitern, die Verkürzung sieht eher den verengten Zeitrahmen, dabei geht es weniger darum, den Zeitgedanken zu reflektieren, als Dinge auf erhöhtem Niveau zu diskutieren.” Und ein weiteres gewichtiges Argument führtKrebs an: „Die soziale Ungleichheitwird verstärkt. Können Eltern ihre Kinder nicht außerhalb der Schule fördern – sei es, weil sie nicht das gleiche Bildungsniveau haben oder Nachhilfe nicht finanzieren können – verlieren diese Kinder.”

Lamprecht bestätigt aus ihren Erfahrungen: „Schüler, die Eltern haben, die sich engagieren können, sind klar im Vorteil. Nehmen wir Englisch und Französisch ab der fünften Klasse. Das muss begleitet werden, denn welches elfjährige Kinder lernt schon freiwillig täglich Vokabeln? Das Gros der Schüler hat dadurch weniger Freizeit und die Selektion wird schärfer. Die Leistungsspitze läuft zu Hochform auf, für diese Schüler scheint es anregend zu sein, so viel um die Ohren zu haben. Für mich als Lehrer ist das insgesamt irritierend: schließlich sollten wir mehr individuell fördern und uns nicht auf einem Niveau bewegen, bei dem die Stärksten zu Hochform motiviert und die Schwächsten abgehängt werden.”