Neues Angebot der Schule für Logopädie hilft stotternden Jugendlichen. Ein Gespräch über Muskelkater nach dem Reden und über Wege aus der Sprechangst.

Wer stottert, spricht nicht gern – auch nicht mit einem Therapeuten: Nur zehn Prozent der Betroffenen lassen sich behandeln. Dabei können Logopäden helfen, das Stottern in den Griff zu bekommen – so weit, dass ein Laie es nicht mehr hört. Mit der stellvertretenden Leiterin der Schule für Logopädie am St. Anna Krankenhaus, Bettina Alzner, sprach Redakteurin Monique de Cleur.

Stottern steckt an, heißt es – tatsächlich?

Bettina Alzner: Dafür sind unsere Spiegelneuronen verantwortlich, das ist eine ganz normale Reaktion. Wir übernehmen die Spannung des Gegenübers, und manche Menschen geraten dadurch kurz selbst ins Stottern. Diese Menschen haben eine außerordentliche Muskelaktivität. Das spüren und übernehmen wir. Sprachproduktion und -verarbeitung ist das komplexeste, was der Körper machen kann: Wir haben insgesamt 600 Muskeln – am Sprechen sind davon 100 beteiligt, allein die Zunge besteht aus 18. Nach so einem Gespräch haben Sie unter Umständen selbst Muskelkater.

Was bedeutet ihr Sprachfehler für die Betroffenen?

Stottern ist emotional maximal belastend, auch bei geringer Symptomatik. Die Sprachwerkzeuge funktionieren nicht – und zwar genau dann, wenn es drauf ankommt, wie in einer Prüfung. Das Hauptproblem ist nicht das Stottern, sondern die verdeckte Symptomatik: Die Patienten haben extreme Sprechangst, gehen nicht ans Telefon, melden sich nicht im Unterricht, reden nicht in der Öffentlichkeit. Zu mir kam ein 15-jähriger Jugendlicher in die Therapie, der sagte: ‘Ich habe Angst, dass ich bald sterben werden, weil ich nichts mehr essen kann.’ Er war 1,90 Meter groß und wog nur noch 60 Kilogramm. Er hatte so starke Sprechangst, dass er sich nach dem Essen übergeben musste. Ein anderer Patient sagte: Er macht alles selbstständig, aber mit dem Stottern kommt er nicht alleine zurecht. Es war für ihn eine persönliche Niederlage, dass er dabei Hilfe brauchte. Aber die braucht man.

Sie bieten Seminare für stotternde Jugendliche an. Die sind ja schon ihres Alters wegen zur Coolness verpflichtet. Macht ihnen das Stottern besonders zu schaffen?

Für sie ist es besonders heftig, ja. Wir haben das Seminar bisher zweimal angeboten, bislang ohne Rückmeldung. Unsere Vermutung ist, dass sie sich nicht trauen.

Schicken die Eltern sie denn nicht hin?

Das heißt noch lange nicht, dass sie kommen. Und auch die Eltern brauchen viel Beratung und Begleitung. Sie zweifeln oft an sich, fragen sich: Sind wir zu blöd, dem Kind das Sprechen richtig beizubringen? Aber dem Stottern kann man nicht vorbeugen. Das Entwicklungsstottern beginnt ab der Fähigkeit, Zwei-Wort-Äußerungen zu tätigen, also ab dem 2. Lebensjahr. Mit so kleinen Kindern kann man noch keine Stottertherapie durchführen, das geht ab dem 4. Lebensjahr. Vorher können die Eltern mit ihren Kindern arbeiten.

Wenn ein Kind sich mal verhaspelt, muss es aber nicht gleich in Behandlung.

Nein, zwischen dem 2. und 5. Lebensjahr hat eigentlich jeder eine Phase, wo es zu Wortwiederholungen kommt oder zu Wortabbrüchen. Man kann gucken, warum vielleicht eine Redeflussstörung vorliegt. Wenn Kinder anfangen, sich gegen das Stottern zu wehren; wenn sie aufstampfen, weinen, schimpfen oder auch ihre Eltern fragen: Warum kann ich nicht mehr sprechen? Spätestens dann ist eine Therapie angesagt.

Wie arbeiten Sie als Logopädin?

Es gibt mehrere hundert Ansätze zur Stottertherapie, aber zwei große Schulen. Erstens die Sprechtechniken. Da lernt der Patient, wie die Redeweise flüssig klingt: über sehr langsames Sprechen oder rhythmisches Sprechen, wo man immer mal die Stimme hebt. Die Konzentration auf eine andere Sprechweise lenkt von der eigenen ab, deshalb stottern die Betroffenen dann nicht. Aber diese Techniken verpuffen, wenn sie spontan sein wollen, wenn sie zum Beispiel einen Witz erzählen.
Die andere Schule sind die Modifikationstechniken. Das ist wie eine Forschungsreise in die eigene Sprache. Sie lernen zu hören und zu spüren, wann die hörbaren Ereignisse kommen. Sie müssen sich mit ihren Symptomen beschäftigen: Blockierung (K-------ürbis), Dehnung (deeeeer, mmmmmein), Wiederholung (d-d-d-d-das, mein mein mein). Und sie lernen kennen, was sie tun, um diese Ereignisse zu vermeiden oder da rauszukommen: Synonyme verwenden, Sätze verändern, Sprechen im Telegrammstil, Ankämpfreaktionen wie starkes Ausatmen vor dem Sprechen oder motorische Starthilfe mit den Händen, den Armen, dem Kopf. Ich hatte Patienten hier, die haben Stifte zerbrochen. Da weiß man dann, wie viel Druck da ist. Darum sieht stotterndes Sprechen zum Teil abenteuerlich aus. Tatsächlich erhalten diese Strategien das Stottern aber. Es ist deshalb Teil der Therapie, sie möglichst weit zu reduzieren.

Gibt es Buchstaben oder Worte, die besondere Stolperfallen darstellen?

Stimmhafte Laute sind schwieriger als stimmlose, weil sie mit dosierten, weicheren Bewegungen gesprochen werden müssen – sonst wird aus einem B schnell ein P. Vokale und Mundöffnungslaute sind auch schwierig. M und K sind schwierig zu lösen. Und alle Worte, die länger sind als zwei Silben, sind ein Problem.

Je mehr Gefühle im Spiel sind, desto stärker wird das Stottern. Ist ein Heiratsantrag flüssig möglich?

Emotionale Veränderung, Zeitdruck: Das verändert das Sprechen. Wenn diese Menschen müde sind oder wütend, wenn sie sich freuen, stottern sie mehr. Ich hatte einen Patienten, der wollte seiner Freundin einen Heiratsantrag machen und nannte ein Datum: ‘Bis dahin muss ich das über die Lippen bringen.’ Es hat geklappt.

Ist Stottern heilbar?

Schon definitionstechnisch nicht, denn laut Weltgesundheitsorganisation ist Stottern keine Krankheit, sondern eine Kommunikationsbehinderung. Aber es ist regulierbar. Ziel der Therapie ist es, das Stottern so unauffällig zu machen, dass ein Laie es nicht hört. Ich habe Patienten, wo ich mich selbst frage: War da was, oder war da nichts? Und es soll körperlich nicht mehr so anstrengend sein. Bis dahin braucht man 60 bis 80 Therapiestunden – also etwa zwei Jahre.