Duisburg.
Eine schwere Tür schließt sich hinter uns. Es wird Nacht. Gehämmer aus der Ferne dringt ans Ohr, es lässt sich schwer sagen, wo es herkommt. Es riecht metallisch – typischer Geruch, wie er beim Schweißen und Schneiden von Metall entsteht. Nach einigen Sekunden haben sich die Augen an das wenige Licht gewöhnt. Wir stehen dort, wo in wenigen Monaten Gluthitze herrschen wird. Mitten in der Brennkammer des neuen Walsumer Kraftwerkblocks. Dem einstmals hochgelobten Wunderwerk der Technik, das den Wirkungsgrad von Kohlekraftwerken auf knapp 46 Prozent steigern sollte – und seit anderthalb Jahren nur eines bereitet: Ärger.
Neuer Stahl hält der Belastung nicht Stand
Ärger, weil der neue Stahl im Verdampfer, also dort, wo der Stoff produziert wird, der die Turbine antreibt, der Belastung nicht Stand hält und jetzt erneuert werden muss.
„Nach der erfolgreichen Kesseldruckprobe 2009 tauchten plötzlich undichte Schweißnähte auf“, sagt Steag-Projektentwickler Wolfgang Konrad, 12 000 der knapp 40 000 Nähte wurden vor zwei Jahren mit Röntgenstrahlen durchleuchtet, 1500 waren undicht. Man ließ sie reparieren, um kurz danach festzustellen: Das hat alles nichts gebracht. Nun war guter Rat teuer. Letztlich kam nur der Austausch des neuartigen Stahls gegen altbewährten in Frage. „Einen weiteren Reparaturversuch wollten wir uns ersparen“, sagt Konrad. „Was hätte der bringen sollen?!“
Und so einigten sich Hersteller Hitachi und Kraftwerkseigner Steag, die gesamte Technik aus dem 105 Meter hohen Kesselhaus mit der gigantisch großen Brennkammer bis auf eine Höhe von 87 Meter auszuräumen. Der kleine Rest konnte bleiben, dort befinden sich Heizflächen mit bewährter Kraftwerkstechnik. Das war Ende 2011.
Unglaubliche Mengen Stahl mussten herausgetrennt und Stück für Stück aus dem von Außen schlichten, trotz seiner Größe eher unscheinbaren Turm, heraus bugsiert werden.
Unmengen Metall mussten ausgebaut werden
Jetzt steht man also in einem Bauwerk, das vor ein paar Monaten noch picke-packe voll mit Technik war, die nicht hielt, was der Hersteller versprach. In dem man sich praktisch nicht mehr bewegen konnte. Jetzt ist es leer. Entlang der Wände stehen Gerüste, die in schwindelerregende Höhen reichen. Darauf entdeckt man hier und da Arbeiter. Was sie tun? Aus der Entfernung lässt sich das nicht sagen.
Per Aufzug geht es binnen weniger Sekunden bis auf 87 Meter. Hier steht man plötzlich vor einem Gewirr aus Rohren. Durch sie soll spätestens im Frühjahr 2013, also knapp drei Jahre später als ursprünglich geplant, der Turbinen-Dampf mit über 600 Grad und 258 Bar Druck strömen. „Wir bauen die ganze Technik von oben nach unten neu ein“, sagt Baustellenleiter Peter Hubbertz. 33 000 Schweißnähte müssen gelegt werden. In zwei Schichten sind jeweils 40 Spezialisten, die zum größten Teil aus Kroatien kommen, damit beschäftigt. Pro Rohrverbindung benötigen sie im Durchschnitt etwa zweieinhalb Stunden, sprich: In einer Schicht schaffen sie gerade mal drei Nähte.
Auf dieser Riesenbaustelle, die wie ein beleuchteter Wolkenkratzer bei Nacht wirkt, geht es ruhig zu. Die Arbeiter verteilen sich in den Weiten. Ob die Truppe reicht, um die Technik bis Anfang kommenden Jahres fertig zu bekommen, fragt man sich unwillkürlich. „Kein Problem, wir sind im Zeitplan“, sagt Konrad. Mehr als zwei Schichten kommen nicht in Frage: „Die Nacht brauchen wir, um die Nähte zu röntgen“, fügt Hubbertz hinzu. Nur so kann man rechtzeitig Undichtigkeiten feststellen.
Man geht auf Nummer sicher, prüft jede fünfte Verbindung, so wie es „das Regelwerk“ vorschreibt. „Wenn es irgendwo Probleme gibt, wissen wir sofort, welcher Schweißer dafür verantwortlich ist“, sagt der Baustellenleiter. Jede noch so kleine Arbeit ist identifizierbar. Dafür gibt es Stempel und Nummern.
Die Stunde der Wahrheitkommt im Frühjahr 2013
Und was kostet die ganze Aktion? Nun, darüber schweigt Steag sich aus. Nicht einmal den Produktionsausfall will man beziffern. Nur soviel wollte Konrad verraten: „Der Hersteller ist nicht glücklich und der Betreiber auch nicht.“ Wichtig sei doch nur, dass am Ende ein gut funktionierender Kraftwerkblock ans Netz gehe. Der übrigens auch mit herkömmlicher Technik „hochmodern und hocheffizient“ einen Wirkungsgrad von dann 45 Prozent erreichen soll.
Im Frühjahr 2013 kommt die Stunde der Wahrheit: Dann soll der Probebetrieb starten.
Die unendliche Geschichte des Blocks 10
Die unendliche Geschichte des neuen Kraftwerkblocks beginnt mit der Grundsteinlegung am 20. November 2006. Alle Proteste der Bürger haben nichts geholfen – die neue Stromanlage, die rund 750 Megawatt Strom produzieren soll, wird gebaut.
Gut anderthalb Jahre vorher hatte sich eine neue Projektgesellschaft gegründet, die Block 10 ab dem Jahr 2010 betreiben wollte. Sie setzt sich aus Evonik-Steag (51-%-Anteil) und EVN, den Energieversorgern Niederösterreich (49 %) zusammen.
Als erstes entsteht der 181 Meter hohe Kühlturm. Er beherrscht die Kraftwerkskulisse. 2008 steht der Turm. Daneben ist inzwischen das über 100 Meter hohe Kesselgebäude entstanden. Ein Zwerg im Vergleich.
Das Herz der Anlage wird mit Technik bestückt, die das Nonplusultra das Kraftwerkbaus sein soll. Das Rohrleitungssystem besteht aus einem neuen Stahl, der Wunder bewirken soll, sich aber als ungeeignet herausstellt. Und das Wochen nach der erfolgreichen Druckprobe im Juli 2009. Die TÜV-Abnahme feierten die Kraftwerksbauer groß auf der Baustelle – der Shanty-Chor sang, während die Plakette enthüllt wurde.
Block bleibt 40 bis 50 Jahre am Netz
Anfang 2010 begann der Erprobungsbetrieb – plötzlich entdeckte man 1500 undichte Schweißnähte. Sie wurden repariert. Anschließend gab es weitere 1500 Undichtigkeiten.
Die Anlage kostet 800 Millionen Euro. Sie sollte ein Vorzeigeobjekt werden – jetzt wird eher Spott über den Hersteller ausgeschüttet.
Das Kesselhaus hat eine Höhe von 105 Metern. Darin befinden sich 450 Kilometer Heizleitungen mit 40 000 Schweißnähten. Das Kesselhaus wiegt 10 000 Tonnen. Pro Stunde sollen 2143 Tonnen Dampf erzeugt werden. Um diese Menge zu erreichen, sind 16 Brennelemente nötig, jedes für sich hat fast die Größe einer Flugzeugturbine.
Ende dieses Jahres will Steag den komplett erneuerten Kessel mit bewährter Technik erneut unter Druck setzten. Wenn alles glatt läuft, wird im Frühjahr 2013 der Probebetrieb starten. Die kommerzielle Stromerzeugung ist im Sommer oder Herbst 2013 geplant – rund drei Jahre später als ursprünglich gedacht.
Zu den Mehrkosten und dem Produktionsausfall gibt Steag keinen Kommentar ab. Auch nicht, nach welcher Laufzeit die Investitionen eingefahren sind. Wohl aber wird die geplante Laufzeit des neuen Kraftwerkblocks genannt: 40 bis 50 Jahre