Duisburg-Marxloh. Der Hochofen Schwelgern 1 in Duisburg-Marxloh feiert seinen 50. Geburtstag. Warum der „Schwarze Riese“ schon für blankes Entsetzen gesorgt hat.
Vor 50 Jahren weihte die August-Thyssen-Hütte den größten Hochofen der Welt ein. Seitdem prägt der „Schwarze Riese“ mit seiner 110 Meter hohen Silhouette das Stadtbild von Marxloh. Gut 15 Prozent der gesamten Baukosten in Höhe von 350 Millionen Mark floss damals auf den Umweltschutz. Trotzdem kamen schon wenige Tage nach Inbetriebnahme die ersten Proteste.
Anwohner Klaus-Peter Windrich bezeichnet sein Verhältnis zu „Schwelgern 1“ als Hassliebe. Er spaziert täglich mit seinem Hund durch den nahe gelegenen Park direkt am Stahlwerk. Wenn die Morgensonne auf den stählernen Winderhitzer des riesigen Hochofens steht, ist der Rentner versöhnt. „Das ist echt schön“, sagt der 72-Jährige. Und beinahe majestätisch wirkt es, wenn die Sonnenstrahlen durch die Wolken über dem Ofen brechen.
Für die Anwohner hatte Thyssen in Duisburg ein Monster zum Leben erweckt
Sind die Abgase allerdings rot, braun oder schwarz, dann sieht das alles schon ganz anders aus. Wie 1973. Nach Anblasen des Ofens im Februar überwog bei den Anwohnern das Entsetzen. Sie klagten über Lärm und Gestank, mussten Schlaftabletten nehmen, hatten Kopfschmerzen, litten an Erbrechen. Es knallte regelmäßig. Fensterscheiben gingen zu Bruch. Es regnete Scherben über gedeckte Frühstückstische. In ihren Augen hatten die Ingenieure ein Monster zum Leben erweckt.
Der in Beeck geborene Windrich wohnte damals aus beruflichen Gründen ein paar Jahre im Westerwald, besuchte aber regelmäßig am Wochenende einen Freund in Marxloh. „Das war unmenschlich hier. Ich hätte das so nicht hingenommen“, sagt der pensionierte Messtechniker, seit Jahrzehnten ein kritischer Begleiter des Stahlwerks in seiner unmittelbaren Nachbarschaft.
Ingenieure von Thyssen waren überrascht von Dreck und Lärm des Duisburger Hochofens
Die Ingenieure bei Thyssen waren mächtig stolz, den größten Hochofen der Welt errichtet zu haben. Sie forderten Nachsicht von den 5000 Bewohnern in Marxloh. Der technische Fortschritt zolle halt seinen Tribut. Doch dann wurden auch sie überrascht, wie viel Lärm und Dreck der „Schwarze Riese“ verursachte. Denn ein Probebetrieb war nicht möglich gewesen, um das schon im Vorfeld festzustellen.
Dicke Staubschichten legten sich über das von Thyssen gespendete Schwelgern-Stadion und das Schwelgern-Bad im Park. Der Wind trug den Dreck in die Wohnungen und Häuser der Anwohner. Wäsche, Fenster, Autos – überall dunkler Staub. „Wenn man die Dachrinnen reinigte, war der Eimer nachher so schwer, dass der Henkel riss. So viel Material aus dem Hochofen war drin“, so Windrich.
Duisburg hatte die am schlimmsten mit Schwefeldioxidgasen belastete Luft Deutschlands
Im Duisburger Luftraum wurde die höchste Konzentration der gesundheitsschädlichen Schwefeldioxidgase von allen deutschen Großstädten gemessen, schrieb „Der Spiegel“ 1973. Aus Sicht der Ordnungsbehörden wesentlich gravierender war allerdings die Lärmbelästigung. Das Gewerbeaufsichtsamt hatte 35 Dezibel zugestanden. Aber der Stahlkoloss brachte es auf 70 Dezibel. Das war richtig laut, auch nachts.
Auch interessant
Beinahe Weltuntergangsstimmung verursachte ein Störfall wenige Wochen nach Inbetriebnahme. Bei Gewitter traf ein Blitz den Transformator und setzte damit die Gichtgasreinigung außer Betrieb. „Dann sind mit einem infernalischen Lärm Gase über die Sicherheitsventile entwichen. Das hat die Bevölkerung zu Recht und in verständlicher Weise in Aufruhr gebracht“, sagt Andreas Zilt, Leiter des Konzernarchivs von Thyssenkrupp.
[Nichts verpassen, was in Duisburg passiert: Hier für den täglichen Duisburg-Newsletter anmelden.]
Die genervten Anwohner gründeten eine Bürgerinitiative, eine der ersten im Ruhrgebiet überhaupt. Der politische Druck wuchs, und die Gewerbeaufsicht verordnete die Stilllegung des Hochofens. Doch Thyssen legte vor dem Düsseldorfer Verwaltungsgericht Einspruch ein und erwirkte einen Vergleich. Der Konzern musste nachbessern und die Lärmbelästigung reduzieren. Die Anwohner in Marxloh, denen ein weißer Riese versprochen worden war, lebten also erst mal weiter mit Lärm und Dreck.
Der Konzern investierte in den folgenden Jahren immer mehr in neue Umwelttechnik. „Heute ist das Thema Luftreinhaltung abgehakt“, sagt Windrich. Beim Lärm gebe es immer mal wieder Ausreißer, je nach Windrichtung. Oder wenn etwas Besonderes passiert. Wie zum Beispiel das Erdbeben in Roermond 1992. „Da wurden in der Nacht plötzlich alle Ventile aufgerissen. Das war ein Kreischen. Ich dachte, die Welt geht unter.“
In Zukunft wird Thyssenkrupp auf Wasserstoff-Betrieb setzen
Windrich hat als Beobachter vor Ort Umweltbehörden und Ämtern mit Informationen gefüttert – und die Verantwortlichen genervt. Sein Fotoarchiv umfasst rund 4000 Fotos vom Stahlwerk, allein 1500 vom Hochofen „Schwelgern 1“. Seit 1980 wohnt er in Marxloh und seit 14 Jahren in der Wiesenstraße, nur 300 Meter von dem Koloss entfernt. Von seiner kleinen Terrasse im Erdgeschoss hat er keinen direkten Blick auf den Hochofen. „Das ist auch gut so, sonst rege ich mich nur auf.“
Auch interessant
Die jüngste Modernisierung von „Schwelgern 1“ war die letzte. Für die Zukunft setzt Thyssenkrupp Steel auf eine umweltfreundliche Stahlerzeugung in Anlagen, die mit Wasserstoff betrieben werden. Schwelgern 1 befindet sich also auf seiner finalen Ofenreise und wird dann irgendwann stillgelegt.