Duisburg. .
Das Meer der Melancholie hat sich zurückgezogen. Kerze um Kerze, Stofftier um Stofftier, Abschiedsbrief um Abschiedsbrief. Stattdessen ist ein Berg gewachsen, in einem schwarz lackierten Baucontainer mit gläserner Front. Ein Hügel voller Bilder, voller Erinnerungen.
Zum letzten Mal, bevor der Unglückstunnel wieder für den Straßenverkehr geöffnet wird, kommen die Menschen an diesem Samstag zur Karl-Lehr-Straße in Duisburg. Und mit ihnen die Anteilnahme. Als würde diese nicht schon beengend genug wirken, drückt von oben herab das flache Gewölbe des Gelben Bogens unentwegt auf die Seelen. Ein Künstler empfängt die Besucher mit seiner Trommel. Dumpfe Töne hallen durch den Tunnel – mal ist es ein lauter, bedrohlich klingender Schlag mit dem Stock, mal ein leises, mahnendes Trommeln mit den Fingerspitzen. Man mag sich kaum ausdenken, welches Drama sich hier abgespielt hat.
Sechs Wochen haben Bürger aus Duisburg und der gesamten Republik der 21 Menschen gedacht, die am 24. Juli bei der Loveparade so abrupt aus ihrem Leben gerissen geworden sind. Die Menschen, die vielleicht Glück gehabt haben an jenem Tag, und später nochmal wiedergekommen sind, haben ein Bild der tiefen Betroffenheit hinterlassen, das in den vergangenen Tagen noch größer geworden ist. Stofftiere. Mit glitzernden Herzchen beklebte Bilderrahmen, in denen Abschiedsworte der Familien, der Freunde festgehalten sind. Geschichten, Gedichte, Beileidsbekundungen. Irgendwo steht geschrieben: „Gott! Du hast so viele Engel. Warum hast Du unsere genommen?“ Gebastelte Collagen, große Pappen, auf denen die Namen und teilweise auch Fotos der Opfer verewigt sind. T-Shirts, Herzen. Aber auch Anklagen und die immer wieder kehrende Frage: Warum?
Verweinte Augen hinter
großen Sonnenbrillen
Auch an diesem Tag, an dem ein paar Hundert dem Aufruf des Bürgervereins Gedenken gefolgt sind, die Erinnerungsstücke würdevoll aufzusammeln, beschäftigt dies die Menschen. „Wie man durch so ein Mäuseloch Leute jagen kann“, sagt ein Mann in die Runde und schüttelt mit dem Kopf. Viele Besucher nehmen sich in die Arme, falten die Hände zum Beten, ihnen läuft noch einmal der Schauer eiskalt den Rücken herunter. Das Entsetzen über das Versagen der Politik, die Schlammschlacht um Schuldzuweisungen, die immer neuen Nachrichten von Gutachten, Gegengutachten und Gegengegengutachten eint die Duisburger in ihrem Denken, in ihrem Frust – demgegenüber steht der schreckliche Verlust eines geliebten Menschen.
Viele der Angehörigen sind gekommen, sie tragen Liebe in sich und die Trauer nach außen. Ein junger Mann, der hier seine Freundin verloren hat, trägt auf der Rückseite seines T-Shirts ein Bild von ihr mit sich. Vorne steht darauf geschrieben: „Du lebst in unseren Herzen ewig weiter“. Die anderen verstecken ihre verweinten Augen hinter großen Sonnenbrillen, der Zugang zu ihrer Gefühlswelt ist mit schweren Steinen zugemauert. Manche von ihnen sind das erste Mal in Duisburg, sie stehen vor der Rampe und blicken auf die Treppe.
Am Morgen wurde eine bronzene, schlichte Gedenktafel angebracht. Keinen Meter breit, mit der Aufschrift: „Duisburg gedenkt der Opfer der Loveparade 24. Juli 2010“. Man mag mit ihnen weinen, wenn sie sich vorstellen, wie ihre Kinder, ihre Geschwister, ihre Lieben hier aussichtslos um ihr Leben gekämpft haben. Ihre Gedanken, ihre Worte, die teilweise von der Trauer geschluckt werden, zu verstehen, fällt schwer – sie hier wiederzugeben, unmöglich. Eine Frau nimmt alle Kraft zusammen, sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und holt einen Fotoapparat heraus.
Wie schwer muss es ihr fallen, diesen Ort in einem Bild festzuhalten?
Es ist gut, dass die Trauernden in diesem intimen Moment nicht alleine sind. Sie werden begleitet von Seelsorgern, die sich ihrer schon kurz nach dem Unglück angenommen haben. „Es ist wichtig, immer wieder darüber zu reden“, sagt einer von ihnen, Richard Bannert. Die Seelsorger geben den Angehörigen die Möglichkeit, ihr Herz nicht zu Stein werden zu lassen, je tiefer sich der Schmerz über den Verlust darin eingräbt. Es wird noch lange dauern, diese Bilder zu verarbeiten, die auch vereinzelte Katastrophentouristen mit ihren Handys, Foto- und Filmkameras festhalten und die Richard Bannert sehr nachdenklich stimmen: „Da ist eine Kultur in unserer Gesellschaft kaputtgegangen, die Menschen gieren nach Bildern, nach Action“, sagt er mit aller Deutlichkeit, „die Privatsphäre wird mit Händen geschlagen und mit Füßen getreten.“
Provisorischer
Trauer-Schrein
Die Bürger sammeln die Devotionalien auf und bringen sie in Plastikkörben zum Glaskubus, dem provisorischen Trauer-Schrein. Im Inneren steht erneut Schwarz und Weiß: „Duisburg gedenkt der Opfer der Loveparade“. Die Angehörigen halten davor inne, während die Helfer die Kisten auspacken. Es klirrt, ein paar Kerzen werden im Kubus ausgeschüttet. Später welken vor der Glasfront die Blumen weiter vor sich hin, sie lassen ihre Köpfe schon lange hängen. Viele Trauernde haben eigene Bilder an die Opfer mitgebracht, die nun ganz vorne im mittleren Fenster aufgestellt werden. Der Tod, er bekommt hier nochmal Gesichter. Sie sind jung, fröhlich, unschuldig.
Einigen missfällt aber auch diese Form der Aufbewahrung: „Einfach lächerlich“, sagen sie, das sehe aus „wie ein Müllhaufen“. Auch der Ort ist umstritten. Zum einen, weil der Kubus durch Bäume und Sträucher für Passanten verdeckt ist. Zum anderen, weil sich Anwohner gegen die Aufbewahrungsstätte auflehnen. Ihre Jalousien sind an diesem Nachmittag demonstrativ heruntergelassen.
Durch den Tunnel rollt mittlerweile wieder der Verkehr. Auf dem Asphalt wird schon bald der Abrieb der Reifen die Kreide überdecken, mit der die Leichen umrandet wurden. Der Regen wird die letzten Wachsblumen wegspülen, die ungefallene Grablichter auf den Gehsteig gemalt haben. Was bleibt, sind die Trauer und die Erinnerung – sie haben sich in diesem Tunnel für ewig in die Steine gebrannt.