Düsseldorf/Duisburg. Der Loveparade-Prozess ist unterbrochen worden, weil die Englisch-Dolmetscherin Zeugen-Aussagen ungenau und teils falsch übersetzt hat.

Der Zeuge aus Zwolle ist der achte. Der achte im Loveparade-Prozess in Düsseldorf, der unter Tränen von jenem 24. Juli 2010 spricht, an dem neben ihm in Duisburg Menschen starben. Unter ihnen - im leider wahren Wortsinn - Jan Willem, der sein Freund war.

Auch der 28-jährige Niederländer berichtet von Enge, Atemnot und Todesangst. Von einer wogenden Menge Mensch, von Schreien, von Körpern, die aufeinander liegen und sich gegenseitig die Luft nehmen. Von dem Moment, in dem die Kraft zuende ist: “Ich gebe auf. Ich mache die Augen zu. Es gibt keine Hilfe.” Die überlebt haben, erzählen alle anders, jeder hat seine eigene Geschichte, aber doch ist sie immer gleich.

Wenn die Zeugen reden fließen auch häufig mal Tränen

Es ist still, wenn die Zeugen reden, das Entsetzen kriecht bis in die Haarspitzen, diesmal dauert es 17 Minuten, bis Tränen fließen. In den hintersten Reihen aber stöhnt ein Zuhörer auf: “Wie soll dieser Prozess je enden?” Es geht doch in der Anklage um Planungsfehler, um Genehmigungen, darum, wie das tödliche Chaos entstehen konnte. Muss man dafür alle diese Zeugen hören, 65 allein von der Nebenklagebank?

Gericht entlässt Englisch-Dolmetscherin

Eine Woche musste der Prozess Ende Januar ohnehin pausieren: Für die Messe “Boot” wurde der Congress-Saal leergeräumt. Doch danach erkrankte eine der Ersatzschöffinnen. Wegen der Länge des Prozesses müssen drei Ergänzungsrichter und fünf zusätzliche Schöffen an allen Tagen teilnehmen, um im Krankheitsfall einspringen zu können. Drei weitere Verhandlungstage fielen aus.

Am Dienstagnachmittag wurde die Aussage einer eigens aus Australien angereisten Zeugin nach nicht einmal einer halben Stunde unterbrochen: Das Gericht entließ die Englisch-Dolmetscherin, nachdem sie mehrfach ungenau, teilweise falsch übersetzt hatte.

Mit all den Details, die sie erzählen: der junge Niederländer zum Beispiel, wie sie noch Geld holten und Cola, Jan Willem und er, wo Stau war, in welchem Stock ihr Hotelzimmer lag… Wahrscheinlich, um bloß nicht ankommen zu müssen an der Stelle seiner Erinnerung, als Jan Willem, 22, dort liegt, an der Rampe zu einem Festival, das er nie mehr erreicht, blau im Gesicht und ohne Puls. Und oben spielen sie “Sweet Dreams”.

Nur die Zeugen können die Enge auf dem Loveparade-Gelände vermitteln

So eindrucksvoll, wie sie erzählen, seien solche Zeugen “gigantisch”, sagt Nebenkläger-Vertreter Rainer Dietz, “und wir haben keine anderen”. Sie seien vor Ort gewesen, nur sie hätten eine subjektive Sicht auf die Dinge, nur sie könnten klären, was bei den Befragungen immer mitschwingt: Wo stand ein Zaun, war da ein Loch unter den Füßen, wann fuhr wo ein Auto durchs Gedränge? Die damals verletzt wurden, sagt Gerichtssprecher Matthias Breidenstein, kennen “die konkreten Auswirkungen von etwaigen Planungsfehlern”.

Die Fehler selbst werden die Zeugen kaum beurteilen können, aber sie berichten auffällig einig über etwas anderes: Fast ausnahmslos erzählen sie bislang von Polizisten, die dem Sterben tatenlos zugesehen hätten. Und stellen damit eine Jahre alte Frage immer wieder neu in den Raum: Sitzen mit den Mitarbeitern von Stadt und Veranstalter am Ende doch die Falschen auf der Anklagebank? Oder zumindest: nicht alle Richtigen? “Es wird maßgeblich sein”, ahnt Anwalt Dietz, “die Polizei zu hören.”

Zeuge spricht von Depressionen, Suizidgedanken, Flashbacks

Nur, das alles dauert. Mindestens einen halben Tag hat die 6. Große Strafkammer bislang für jeden Zeugen gebraucht. Es fragt der Vorsitzende nach, es fragt der Gutachter, es fragen Staatsanwälte, Nebenkläger-Vertreter, Verteidiger. Und dabei drängt die Zeit. Im Juli 2020 verjährt, was den zehn Angeklagten vorgeworfen wird: fahrlässige Tötung in 21 Fällen, fahrlässige Körperverletzung in zig weiteren.

Gerade für Letztere aber braucht das Gericht die Zeugen. “Man muss feststellen, dass und wie schwer jemand verletzt worden ist”, erklärt Breidenstein. Juristen sprechen vom “Verletzungserfolg”, der Folgen für das Strafmaß hat. Auch deshalb fragen die Verteidiger nach ärztlichen Attesten, nach Drogenmissbrauch und psychischen Vorerkrankungen.

Der 28-Jährige aus Zwolle hat zum elften Prozesstag eine lange Liste vorgelegt, alles Ärzte, die vergeblich versucht haben, ihm seine Depressionen zu nehmen, seine Suizidgedanken, seine Flashbacks, in denen er Jan Willem sieht, aber nie mehr dessen Gesicht. Seit er weiß, dass das Verfahren beginnt, kann der Niederländer nicht mehr arbeiten, er hat seinen Job verloren, er will auch eigentlich nicht reden über das, was geschah. “Aber ich will wissen, wer schuldig war.” Weil er sich selbst schuldig fühlt.

Er musste Jan Willems Mutter sagen, dass er nicht mehr heimkehrt

Die ganze Nacht lang hat er damals nach seinem Freund gesucht. Bis er “das schlimmste Telefongespräch meines Lebens” führen musste: Er sagte Jan Willems Mutter, dass ihr Sohn nicht heimkehren würde. Es ist der Moment, in dem seine Dolmetscherin beginnt zu weinen.

Nach drei Stunden darf der Zeuge gehen. Es folgt Aussage Nummer neun, die einer Freundin der toten Clancie aus Australien. Diesmal dauert es 20 Minuten, bis die Tränen fließen.