Duisburg.. Mehr als sieben Jahre nach dem Unglück kommt es doch noch zum Gerichtsverfahren im Congress Center Düsseldorf. Ein Rückblick auf die Loveparade.
Sie sagten, an alles sei gedacht. Sicherheit sei das oberste Ziel, sagten sie. Doch in Wahrheit sah ein irrwitziger Plan vor, Hunderttausende Menschen durch ein Nadelöhr zu schicken – ein Nadelöhr mit Gegenverkehr, auch noch. Dies ist die Chronik eines furchtbaren Tages.
Freitag, 23. Juli. Ein Tag vor der Loveparade. Dirk W. schreibt im Internet: „Als Ortsansässiger habe ich mich seit Jahren auf die Loveparade gefreut. Nun gehe ich nicht hin. . . Ich halte es für sehr gefährlich, so viele Menschen durch einen langen Tunnel und einen einzigen Zugang schleusen zu wollen.“
Samstag, 24. Juli, 10 Uhr. Duisburg geht in einen Tag, der werden mag wie Samt und Seide. 19 Grad schon morgens, Party liegt in der Luft. Die meisten kommen mit Zügen, sie laufen laut, glücklich und vorschriftsmäßig vom Hauptbahnhof um das Gelände herum und in den Tunnel Karl-Lehr-Straße, von dem aus eine Rampe auf das Fest-Gelände führt. Es ist der einzige Zugang. Hier heißt es: Warten.
10.56 Uhr. Der Tunnel wird erstmals kurzfristig gesperrt, weil es so voll ist. Auswärtige sind irritiert: wollen zur Loveparade und sollen in einen langen, dunklen Tunnel?
11 Uhr. Die Öffnung des Geländes verzögert sich. Beobachter notieren, dass auf dem Gelände noch planiert wird. Die Floats (Partylaster) stehen bereit, DJs checken ihren Sound, Techniker schrauben Birnen in Scheinwerfer. Die Stimmung bleibt: sehr gut.
12.02 Uhr. Jetzt wird das Gelände geöffnet. Die Leute strömen hoch, verteilen sich auf dem Gelände des früheren Güterbahnhofs. In der Mitte steht seine große Ruine. Erstmals wird eine Loveparade auf einem umzäunten Gelände gefeiert: Erstmals kann man nicht einfach nach hinten weggehen, wenn alles zuviel wird.
13 Uhr bis 14.15 Uhr. Während das Gelände sich langsam füllt, ohne dass es wirklich eng würde, entstehen an den Zugängen schon jetzt erste Probleme: Zehntausende stauen sich an den „Vereinzelungsanlagen“. Das sind kontrollierte Durchgänge, die den Zustrom dosieren.
14 Uhr. „The Art Of Love“ klingt an, die Loveparade-Hymne 2010. Jetzt geht die Party richtig los. Die Floats setzen sich in Bewegung, die DJs beginnen zu spielen. Partyyy!
15 Uhr. Was für ein Bild. Die vielen Menschen, wobei auf dem großen Gelände noch immer Platz ist. Die Verkleidungen, die Farben, die Tanzenden auf den Wagen, vor den Wagen. Musik, Alkohol, Stimmung. Techno trifft Karneval. SMS gehen raus: „Super hier!“ „Kommt schnell!“ Mindestens eine wird später bekannt, die warnt. Die Empfänger bleiben zuhause.
15.15 Uhr. Der Rückstau am Rampenkopf wird größer. Entgegen der Planung gehen die Menschen, oben angekommen, nicht weiter auf das Areal: Sie können von hier aus alles gut sehen. Für die Leute hinter ihnen wird es immer mühsamer, nach oben zu kommen. Zudem gehen die ersten schon wieder weg von der Party – fast geht nichts mehr.
16 Uhr. Wer nicht gerade in der Nähe der Rampe ist, in oder vor dem Tunnel, der bekommt von der aufziehenden Katastrophe nichts mit. Oben sagt ein offizieller Duisburger: „Endlich mal schöne Bilder aus Duisburg. Keine Umweltverschmutzung, keine Mafia-Morde.“
15.50, 15.57, 16.01 Uhr. Im Tunnel und auf der Rampe werden mehrere Polizeiketten gebildet. Sie sollen verhindern, dass noch mehr Menschen zusammenströmen. Die Enge wird qualvoll.
16.02 Uhr. Laut Anklage kann von dieser Minute an niemand mehr verhindern, dass gleich Menschen sterben werden.
16.15 Uhr. Das System der Vereinzelung bricht zusammen, die Polizeiketten werden durchbrochen. Vom Rampenkopf bis in den Tunnel zurück stehen Zehntausende Menschen. Vereinzelt wird noch gesungen. Sie wollen doch nur zu einer Party – und jetzt stehen sie in dieser Enge. Heinz H. war nicht weit drin, dann hat er sich zurückgekämpft: „Nur Menschenmassen zu sehen.“ Vom Herauskämpfen hat er ein blaues Auge.
16.40 Uhr. Nichts geht mehr. Die Rampe, die Treppe, versprechen sie nicht, dort zu entkommen? In ihrer Angst drängen viele dorthin, viele in Panik. Ordner, Polizisten und Besucher in glücklicher Höhe ziehen nach oben, wen sie können. Wer jetzt stürzt, geht unter. 18 Menschen sterben heute, drei noch in den nächsten Tagen. Die Sirenen der Notarztwagen sind in der ganzen Innenstadt zu hören. Nur nicht auf dem Loveparade-Gelände: Die Party geht weiter.
16.58 Uhr. Anruf in der Notrufzentrale der Polizei. „Wir haben hier eine tote Person, vielleicht auch zwei. Bitte, Notarzt.“
17.30 Uhr. Oberbürgermeister Adolf Sauerland und Organisator Rainer Schaller geben am anderen Ende des Geländes eine Pressekonferenz unter freiem Himmel. Sie äußern sich sehr zufrieden und reden von 1,4 Millionen Besuchern – eine reine Fantasiezahl, wird sich zeigen.
17.35 Uhr. Anrufe und SMS gehen bei den beiden ein. Da ist etwas passiert. Sie werden unruhig. Bald kommen Gerüchte auf über Tote nach einer Massenpanik irgendwo hier.
19.00 Uhr. Als die Menge aus dem Tunnel zerstreut ist, legt sie Bilder frei, die schwer zu ertragen sind. Ärzte und Sanitäter tun ihre Arbeit. Eltern führen ihre Tochter weg, sie ist die Loveparade-Katastrophe als Bild: ein schluchzendes Mädchen in Spielhöschen. Rettungswagen aus halb NRW rasen auf Duisburg zu.
Abends. Die Innenstadt ist voller vagabundierender Menschen. Eltern suchen ihre Kinder, Freunde ihre Freunde. Das Mobilfunknetz ist zusammengebrochen, kaum jemand zu erreichen. In und vor manchen Kneipen wird trotz alledem gefeiert. Am Hauptbahnhof gibt es große Probleme mit der Abfahrt der Züge. Auf den Zufahrtsstraßen zur Loveparade laufen Leuchtschriften auf Polizeibullys: „Love Parade beendet.“ So soll verhindert werden, dass noch Leute zum Tunnel kommen. Die Party oben aber lässt die Polizei weiterlaufen, damit nicht auf die Katastrophe eine zweite Katastrophe folgt.
Die Loveparade läuft erst aus kurz nach 22 Uhr, als auch die Letzten erfahren, was geschehen ist.
Sonntag, 25. Juli, 8.30 Uhr. Polizei und Staatsanwaltschaft sind im Rathaus. Sie beschlagnahmen, was vom Tage übrig blieb. Um 12 Uhr beginnt im Ratssaal eine Pressekonferenz. Adolf Sauerland sitzt da, Rainer Schaller, Wolfgang Rabe, Ordnungsdezernent. Sie schweigen viel, zucken die Achseln. Ihre gefühlte Botschaft ist: „Tut uns leid. Aber unsere Schuld war das natürlich nicht.“ Die Wirkung ist verheerend. Duisburg kommt in Wut. Adolf Sauerland wird auf der Straße beschimpft und in den nächsten Wochen zum einsamen Mann von Duisburg.
Montag, 26. Juli, 11.30 Uhr. Tag zwei danach. Vor dem Präsidium laden Polizisten beschlagnahmte Gegenstände aus dem Rathaus in Kleinlaster. Computer, Einsatzpläne, Telefonlisten. Was zuletzt noch an der Straße lehnt, ist eine vielleicht einen Meter hohe Karte namens „Lopa-Masterplan Stand 12. Juli“. Sie zeigt den Tunnel und, mit aufgeklebten Pfeilen, die erwarteten Menschenströme auf das Gelände und von ihm weg. Die Pfeile zeigen aufeinander. Und damit ist alles gesagt.