Duisburg. . In wenigen Tagen erscheint das Buch zum Gewässer: „219,3 Kilometer im Fluss“. Darin, unter anderem, eine Fahrradfahrt von der Quelle bis zur Mündung. Ein Vorabdruck in Auszügen.
Radfahren an der Ruhr ist einfach, haben sie gesagt, du radelst ja nur runter. So ein Fluss, haben sie gesagt, geht schließlich immer nur bergab. Rollen längs der Ruhr. Aber die Reise hat noch gar nicht begonnen, da brennen die Beine für eine Pause. Denn wie immer im Leben hat der liebe Gott an den Anfang einer Talfahrt einen Berg gestellt. Winterberg, auch wenn es Sommer ist, Rothaargebirge, Hochsauerlandkreis, Nordosthang des Ruhrkopfs, 674 Höhenmeter – man hätte es ahnen müssen, der Ruhrtalradweg fängt oben an. Da muss man erst mal hin. Von hier aus stürzen sich die Radler in die Tiefe, 230 Kilometer vom Bächlein zum Binnenhafen.
Die Ruhr tut bei Kilometer zehn aber, als wäre sie schon ein Flüsschen, und zwar eines mit Furt. Da kann der Radler übermütig werden, Flussquerung für Unerschrockene auf zwei Rädern! Aber ach, die Sache ist im Fluss, die Strömung ist stärker als der Mensch, der nasse Füße bekommt und lernt: Er mag mit beiden Beinen fest auf der Erde stehen, nicht aber, wenn diese Erde glitschig ist. Oder?
Die Ruhr treibt den Radler weiter, in ihr, auf ihr und an ihr entlang, über Hohlwege, Waldwege, Radwege, Schotterwege, asphaltierte Wege, Lehmwege, zuweilen aufwärts flussabwärts. Hinter Olsberg macht eine Familie Pause. Der Proviant ist alle, die Kinder moppern, aber das liegt an der Dorfjugend, die im seichten Wasser Fangen spielt. Hinter den pinkfarbenen Gasmerkpfählen (das ist Kunst!) kommt die Oase Arnsberg. „63 Kilometer“, hat Hotelwirtin Monika Menge gesagt, „schaffen die meisten“, deshalb steigen viele hier ab, vom Rad und im Hotel und reiben sich den wunden Po. Viele, die hier auftanken, sagt Frau Menge, seien „Wiederholungstäter“, sie kommen zu Silvester oder zur Hochzeit wieder, dann aber ohne Rad.
Das Wasser gurgelt sanft durch das renaturierte Bett, über Steinchen hüpft und Bäume umspült. Ein lauschiger Ort, wenn nicht die Autobahn parallel brauste. Kinder lassen hier Steine titschen, Wanderer ihre Hunde baden, und der Mensch schwimmt auch. Man darf das nicht, eigentlich, kann aber wieder.
Wo das rosa Springkraut die Sicht auf das Wasser verdeckt, steht Heinz-Günter Sareyka mitten in der Ruhr. Wathose, Weste, Kescher auf dem Rücken, Hut auf dem Kopf, ein Cowboy ohne Land und ohne Lasso, auch wenn es so aussieht. Mit langen, eleganten Würfen lässt der Mann seine Schnur übers Wasser tanzen, die Tropfen perlen an ihr ab. Und unten spielt das Wasser um seine Füße, „ein schönes Gefühl“, sagt Günni, der überhaupt nichts schöner findet. Leichtigkeit und Anmut, sagt er, vor allem aber „die Verbundenheit mit der Natur“ sind es, die den Fliegenfischer faszinieren.Dabei fischt Sareyka keine Fliegen, er fischt mit ihnen. Keinen echten, am heimischen Sekretär selbst gebundenen Insekten, wie sie im Speiseplan der Ruhrfische vorkommen.
„Große Schiffe haben immer Vorfahrt“, sagt Wulf-Jürgen Franke, und die Mannschaft wird erst später begreifen, wie ungewollt komisch das war. „Ihr könnt nicht schnell fahren“, hat er nämlich auch gesagt, haha, es geht ja auch aufs Tretboot! Aber kein gewöhnliches: Die „Grüne Flotte“ ist eine aus Tretbooten, in denen man wohnen kann, kleine, hölzerne Yachten, nur eben… mit Pedalen. Jedes Fahrrad hätte eine bessere Übersetzung und einen bequemeren Sattel auch, aber gut, trampelt man sich eben einen See-Wolf.
Vor dem Wasserbahnhof ruft die Besatzung die Schleuse an. Dort wartet Helmut Schmitz, seit 40 Jahren schon. Seelenruhig also und ganz anders als das Team, das mit Herzklopfen den Bootshaken in die Schleusenmauern klemmt. Fünf Meter wird es bergab gehen, „Schleusung zu Tal Nr. 11623“, wird auf der Rechnung stehen, „Am Wasserbahnhof“ Mülheim. Die „Escargot DU-1001 V“ gehört zu Tarif 1.3.1, macht 2,50 Euro. Escargot, weiß das Wörterbuch, sei eine Schnecke.
Enten überholen uns, „volle Kraft voraus!“, aber das ist nicht viel bei einer Höchstgeschwindigkeit von zwölf Stundenkilometern, mit Motor. „Übermäßiger Wellenschlag ist zu vermeiden“, scherzt jemand am Ufer, man kann sich ja unterhalten bei dem Tempo. Der Kapitän aber findet: „Wenn ihr schneller fahren wollt, müsst ihr schneller treten.“ Mann über Bord, das gab es bei der Grünen Flotte allerdings noch nie.
In Oberhausen weiden die weißen Kühe am Ruhrstrand unter lauter werdenden Brücken. Das Geräusch mehrerer Autobahnen und alter Eisenbahn-Viadukte übertönt das Singen der Vögel, Richtung Duisburg rückt die Industrie an den Fluss heran, wie früher. Der ist hier geteilt, in eine weiterhin lauschige grüne Hälfte, an deren Rand sich die Angler reihen, und eine, auf der immer größer werdende Pötte gen Mündung streben. Container, Kräne, stählerne Kolosse kündigen den Hafen an, auch die Atmosphäre ist stählern. Europas größter Binnenhafen hat seinen Charme – nur anders als die Höhenwege des Sauerlands, anders als die Treidelpfade des mittleren Reviers.
Über ein letztes Stück Holperstrecke rollen die Räder aus. Am Fuß der „Rheinorange“ ist Schluss – keine Frucht ist das, obwohl es hier ein wenig nach Banane riecht, Kraftspender für picknickende Radler: eine 25 Meter hohe Skulptur. Landmarke am Ende der Ruhr, die sich hier in Vater Rhein ergießt, am Ende des 230 Kilometer langen Ruhrtalradwegs. 83 Tonnen schwer, so schwer ungefähr wie die Beine derer, die ihren Weg gemacht haben von Winterberg nach Duisburg. Man könnte jetzt weiterradeln, wenn man noch könnte. Den Rhein hinunter bis zum Meer. . . Aber das – ist eine andere Geschichte.