Duisburg.
Mit Jugendlichen, die auf der Straße abhängen, hatte Jennifer Werner in der eigenen Kindheit selten etwas zu tun. Ihr Beruf ist für die Neudorferin ein Kontrastprogramm. Als eine von acht Streetworkern, die vergangenes Jahr in Duisburg mit ihrer Tätigkeit begonnen haben, kümmert sie sich um Kinder und Jugendliche in Meiderich: Wenn der Stress mit den Eltern Zuhause unerträglich ist; wenn falsche Freunde in die Kriminalität geführt haben; oder wenn der Gang zum Amt den Heranwachsenden scheinbar überfordert.
Das neue Beratungsangebot lässt sich die Stadt über 400 000 Euro kosten. Geld, das sich schon in naher Zukunft auszahlen soll. Die Verwaltung hofft, durch die Streetworker weniger Personal in anderen Ämtern zu benötigen. Dann nämlich, wenn Jugendlichen geholfen werden kann, bevor sie auf eine - wie auch immer geartete - schiefe Bahn geraten.
Über dem Schreibtisch der 25-Jährigen prangt ein blaues Graffito: „Vertrauen“ steht dort - scheinbar exemplarisch für das erste halbe Jahr ihrer Tätigkeit. Im Juli war das kleine Ladenlokal auf der Augustastraße noch gänzlich leer geräumt. Die Streetworker waren im Viertel unbekannt. Heute ist das anders: Das Telefon klingelt. Am anderen Ende der Leitung spricht das Diakoniewerk. Ein „dringender Fall“. Ein Junge, Geburtsjahr 1994, über Neujahr von den Eltern rausgeschmissen worden. Jetzt braucht er ein Dach über dem Kopf. Ob für kurz oder lang, ist nicht so recht klar. Wird es aber noch. Werner: „Kann er in einer Stunde kommen? Ich muss hier noch zu Ende sprechen; die Zeitung ist gerade da.“
NRZ: Wie sah die Situation in Meidereich aus, als sie vor einem halben Jahr mit der Arbeit begonnen haben?
Jennifer Werner: Meiderich ist ein Stadtteil mit vielen sozialen Problemen. Doch wir mussten uns erst einmal mit dem Viertel vertraut machen. Uns kannte keiner, wir kannten niemanden. Da halfen dann Gespräche mit dem Bezirksbürgermeister, aber auch mit den Nachbarn. Zudem sind wir durch Meiderich gelaufen, haben Augen und Ohren offen gehalten. Nur so ließ sich herausfinden, wo sich die Jugendlichen, denen wir helfen wollen, überhaupt aufhalten.
Sie kommen direkt von der Uni. Klingt so, als ob Sie direkt ins kalte Wasser geworfen wurden?
Ich habe während meines Sozialpädagogik-Studiums in Nijmwegen bereits in unterschiedlichen Einrichtungen in Duisburg gearbeitet. Dieser Praxisbezug war ein wichtiger Teil des Bachelors. Ich habe dadurch Erfahrungen bei der Waldschule in Großenbaum, einer Einrichtung für behinderte Kinder, und im Mutter-Kind-Haus in Hochfeld sammeln können. Aber es stimmt. Mit dem Klientel, das ich künftig zu betreuen habe, hatte ich in meiner Vergangenheit nie etwas zu tun. Das war mir alles neu.
Und in Meiderich waren Sie dann mit ihrem Kollegen ganz auf sich allein gestellt?
Nicht ganz: Wir haben zunächst eine dreimonatige Hospitanz bei den Streetworkern in Neumühl machen dürfen. Dort haben wir gelernt, wie man Erstgespräche führt, wurden mit den Duisburger Ämtern vertraut gemacht. Auch jetzt noch stehen uns die erfahrenen Kollegen mit Rat und Tat zur Seite. Außerdem arbeiten wir hier als Team. Wann immer es sich einrichten lässt, führe ich Gespräche mit meinem Kollegen zusammen. Alleine schon, damit nichts passieren kann.
Angst vor dem Unbekanntem?
Zumindest ist mir manchmal noch ein wenig bange. Ich hatte zu Beginn einfach etwas Angst, nicht respektiert zu werden. Wenn ein Jugendlicher hier dann laut wurde, mussten wir auch erst damit lernen umzugehen. Ich selbst bin gerade einmal etwas älter als die meisten der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die zu uns kommen. Ich habe richtig nasse Hände bekommen, als ein türkischer Junge von seinen bisherigen Gefängnisbesuchen erzählt hat und wegen Totschlags verurteilt wurde. Doch durch die tagtägliche Arbeit habe ich genug Erfahrung sammeln können. Das schlägt sich auch in meiner Ausstrahlung nieder.
Welche Ängste haben denn wiederum die Jugendlichen vor ihnen als Anlaufstelle?
Das kommt immer auf den konkreten Fall an. Natürlich haben viele Angst, dass bei uns immer das Jugendamt mitschwingt. Da war ein junge Mutter mit ihrer dreijährigen Tochter, die kurzzeitig obdachlos geworden war. Sie war besorgt, wir könnten ihr das Kind wegnehmen. Dabei sind wir in erster Linie Fürsprecher für die Jugendlichen, die uns aufsuchen. Doch auch das hat seine Grenzen.
Wann zum Beispiel?
Wir kamen in eine Familie, da sollte es eigentlich um die Tochter gehen. Dann aber erzählte der 25-jährige Bruder ungeniert, dass er seine Frau und seine Kinder schlagen würde. Wir haben uns dann mit den erfahrenen Streetworkern abgesprochen, uns gefragt: ‘Müssen wir jetzt nicht dem Jugendamt Bescheid geben?’ Letztendlich haben wir dann den Kontakt zur besagten Freundin aufgenommen. Das bringt im Endeffekt auch mehr, als eine Behörde auf sie zu hetzen.
Vertrauen ist also der Schlüssel?
Ja, und dabei müssen wir auch immer unterschiedliche Sichtweisen einnehmen. Nicht nur die Jugendlichen, sondern auch die Eltern müssen uns vertrauen. Wir müssen immer klarstellen, dass wir nur diejenigen sind, die Hilfe anbieten.
Das sind sicherlich die Extremfälle. Wie aber sieht ein gewöhnlicher Arbeitstag aus?
Den normalen Arbeitstag gibt es eigentlich gar nicht: Momentan sind wir hier immer noch in der Startphase. Das führt leider dazu, dass wir viel zu selten raus kommen, um uns und unsere Arbeit den Jugendlichen im Viertel zu präsentieren. Doch so langsam hat es sich herum gesprochen, dass wir hier sind. Allein am Tag vor Weihnachten kamen drei Jugendliche zu uns und wir haben uns um eine neue Bleibe für sie gekümmert. Doch nicht nur dafür sind wir da. So helfen wir beispielsweise bei Behördengängen oder helfen bei Bewerbungsunterlagen. Denn meist haben die Jobcenter für so etwas nicht ausreichend Kapazitäten.
Die Stadt will durch die neuen Streetworker schon in naher Zukunft Geld sparen. Ist das realistisch?
Das kommt ganz auf die Jugendlichen an. Unsere präventive Arbeit ist wichtig, doch nicht jeder nimmt sie an. Manche scheinen immer noch nicht tief genug gefallen zu sein. Doch es gibt auch die positiven Fälle. Die Jugendlichen stehen dann ein paar Wochen später wie verändert bei uns vor der Tür und bedanken sich. Sie sind richtig aufgeblüht. Doch das kann immer nur unter einer Voraussetzung gelingen: Sie müssen sich helfen lassen wollen.