Duisburg. .

Am Vorabend des Loveparade-Jahrestages geleiteten Lichterketten aus Grablichtern die Besucher im Tunnel hin zum Ort der Katastrophe. Verletzte und Hinterbliebene projizierten Fragen an das Mahnmal: „Warum übernimmt niemand die Verantwortung?“

Auf den ersten Blick erscheint der Tunnel in dieser Nacht wie eine Landebahn auf dem Flughafen. Rechts und links von der Fahrbahn der Karl-Lehr-Straße stehen am Rande der Bürgersteige Hunderte Grablichter, alle kerzengerade hintereinander aufgereiht. Diese Lichterkette geleitet jeden Besucher, der den Weg von östlicher Seite aus Neudorf in den Tunnel wählt, zur Unglücksrampe. Hin zu jener Stelle, wo vor einem Jahr 21 junge Menschen ihr Leben verloren.

Eben dort, wo sich in den späten Nachmittagsstunden des 24. Juli 2010 ein tödliches Gedränge gebildet hatte, trauern am Vorabend des Loveparade-Jahrestages wieder einige Tausend Menschen. Weil sie aber über den gesamten Tag und die gesamte Nacht verteilt erscheinen, bleibt für jeden Einzelnen von ihnen genügend Raum und Ruhe zum Trauern. So herrscht am Fuße der Nottreppe, die zu einem der Symbole dieser Katastrophe geworden ist, eine fast unheimliche Stille. Wie im Auge eines Hurricanes.

Der Karl-Lehr-Tunnel ist für den Durchgangsverkehr gesperrt. Das war im vergangenen Jahr schon einmal für sechs Wochen so, als während der offiziellen Trauerzeit zehntausende Menschen die Unglücksstelle selbst in Augenschein nehmen wollten. Sie wollten dort ihre Trauer zum Ausdruck bringen, der Opfer und Verletzten gedenken, ihre Gedanken in Kondolenzbüchern zum Ausdruck bringen. Sie legten Botschaften, Kerzen und persönliche Erinnerungsstücke nieder. Sie wollten aber auch sehen, wo sich das Unfassbare ereignete.

Diesmal ist es etwas anders. Für viele derjenigen, die auch ein Jahr später den Weg zum Unglücksort finden, ist der erneute Besuch der Rampe eine wichtige Rückkehr an einen Ort, der sie traumatisierte. Dazu gehören seelisch oder körperlich Verletzte, die eingezwängt in diesen hin und her wogenden Menschenmassen nicht nur ihre Gesundheit verloren. Sondern auch ein Stück weit ihre Alltagstauglichkeit. Viele der Betroffenen können bis heute keine Menschenansammlungen mehr ertragen. Für manche ist diese Rückkehr und die damit verbundene Konfrontation mit dem Katastrophen-Schauplatz wichtiger Teil einer Therapie.

Fragen prangen auf der stählernen Leinwand

Einige Verletzte und deren Angehörigen hatten sich kurz nach der Katastrophe in dem Verein „Massenpanik Selbsthilfe“ zusammengetan. Und dieser hatte in Kooperation mit dem Medienbunker Marxloh, der Firma Art@Work und dem Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt Duisburg an diesem Samstag zu einer besonderen Aktion eingeladen. Und zwar am Mahnmal, das auf einer Grünfläche in unmittelbarer Nähe des östlichen Tunnelein- und -ausgangs steht.

Auf dessen mächtige, rund drei Meter hohe Stahlplatte projeziert ein Beamer einige Schrifttafeln. Auf diesen sind kritische Fragen zu lesen, die alle Betroffenen an die Macher und Organisatoren der Loveparade 2010 richten. „Warum übernimmt niemand die Verantwortung?“ prangt es dort auf dieser stählernen Leinwand in Schwarz auf leuchtendem Weiß. Oder: „Warum wurden die erwarteten Besucherzahlen im Vorfeld der Loveparade wissentlich verfälscht?“ Oder: „Warum wird nicht gegen Herrn Schaller ermittelt? Und warum nicht gegen Herrn Sauerland?“ Rund 150 Menschen, die sich in einem Halbkreis um die Vorderseite des Mahnmals aufgestellt haben, signalisieren bei vielen dieser Fragen mit ungläubigem Kopfschütteln ihre stille Zustimmung und ihr Unverständnis, warum auch ein Jahr nach der Katastrohe noch so viele dieser Fragen unbeantwortet sind.

Beim „Szenischen Konzert“ in der Salvatorkirche im April wurden diese Fragen schon einmal öffentlich formuliert – und zwar auf Plakaten, die an den steinernen Säulen im Kircheninneren befestigt waren. Eine Videoaufzeichnung mit Ausschnitten dieses eindrucksvollen und unvergesslichen Abends wurde auf eine Leinwand geworfen. „Viele Angehörige mussten weinen, als sie diese eindringlichen Bilder noch einmal gesehen haben“, sagte Jürgen Hagemann, der Vorsitzende von „Massenpanik Selbsthilfe“. Viele wollen nach der Aufführung in den Tunnel. Zur Rampe. Geleitet vom flackernden Schein der Grablichter.